Waldesruh
Köpfe hinweg. Emily schrie leise auf.
»Das war eine Eule«, wisperte Marie. »Deswegen musst du nicht gleich losbrüllen.«
»Ich habe nicht gebrüllt«, widersprach Emily leise.
»Hört auf zu streiten und helft mir lieber«, zischte Janna. Sie waren vom befestigten Pfad abgekommen und das Rad der Schubkarre hatte sich in der Erde festgesetzt. Es ging weder vor noch zurück, so heftig sie auch schoben und zerrten.
»Hilft nichts, wir müssen sie rausheben«, sagte Janna nach einigen vergeblichen Versuchen.
»Nein!«
»Es geht nicht anders. Fass an, Marie.«
»Ich kann nicht! Ich kann nicht mehr!«, rief Marie. In ihrer Stimme schrillte Panik. Bis jetzt hatte Marie die Nerven behalten, viel mehr als ihre drei Jahre ältere Schwester. Umso schlimmer erschien es Emily, dass ihre Freundin nun die Beherrschung verlor.
Janna nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Marie! Reiß dich jetzt zusammen! Denk an Moritz! Wir schaffen das. Los, komm!«
Marie holte tief Luft und einen Moment später hatte sie sich wieder in der Gewalt. Die Schwestern hoben den steifen, zu einem Komma gekrümmten Leichnam aus der Wanne – ein An blick, so grotesk und absurd, dass Emily gerade noch einen Aufschrei unterdrücken konnte. Froh, sich ablenken zu können, befreite sie die festgefahrene Karre. Die Tote wurde wieder hineingelegt. Langsam und vorsichtig ging es weiter.
»Gott sei Dank ist der Boden trocken«, flüsterte Janna. »Sonst kämen wir hier nicht vorwärts.« Sie ahnte noch nicht, dass sie den trockenen Boden in Kürze verfluchen würde.
»Warum flüstern wir eigentlich?«, fragte Marie. »Hier ist doch außer uns kein Mensch.«
»Hoffentlich«, brummte Janna.
»Wie tief denn noch?« Emilys Schultern und der Rücken schmerzten und ihre Finger waren ganz verkrampft, so lange hatten sie den Stiel der Schaufel umklammert.
»Six feet under«, antwortete Janna.
»Was?«, keuchte Emily verständnislos.
»Das ist ihre Lieblingsserie«, erklärte Marie. »Du weißt doch, diese Bestatter-Serie. Ein Fuß hat null komma drei Meter. Mal sechs macht einen Meter achtzig. So tief muss ein Grab schon sein. Sonst kommen Füchse oder Dachse da dran. Oder ein Hund buddelt...«
»Hör auf«, sagte Emily, die sich vor Ekel schüttelte.
Janna tauschte den langstieligen Spaten gegen den kurzen und stieg in die kleine Grube, die sie während der vergangenen zwei Stunden ausgehoben hatten. Zuvor hatten sie bereits eine Stunde vergeblich gearbeitet. Der Platz, den sie ursprünglich als letzte Ruhestätte für ihre Großmutter ausgewählt hatten, lag unter einer ausladenden Buche, jedoch viel zu nah am Stamm. Immer wieder waren ihnen Wurzeln in die Quere gekommen und schließlich hatten sie entnervt aufgegeben und ein paar Meter weiter von vorn angefangen. Hier gab es nur noch dünne Wurzeln, die man mit dem Spaten abstechen konnte. Es hatte längere Zeit nicht geregnet. Immer wieder rieselte die trockene Erde von den Seiten zurück in das Loch. Dennoch waren die ersten sechzig, achtzig Zentimeter relativ rasch ausgehoben. Dann aber stießen sie auf eine harte Lehmschicht und von da an ging es nur noch zentimeterweise vorwärts. Trotz der Arbeitshandschuhe, die Marie zum Glück noch rasch eingepackt hatte, schmerzten Emilys Hände.
Das würde Blasen geben, dachte sie, und im nächsten Moment musste sie ein hysterisches Kichern unterdrücken. Was kümmerten sie Blasen? Es war mitten in der Nacht und sie waren gerade dabei, die Leiche von Jannas und Maries Großmutter im Wald zu vergraben!
»Dieser verdammte Lehm! Das schaffen wir nie«, fluchte Marie.
»Wir müssen«, meinte Janna und hackte verbissen weiter. Der harte Boden hatte wenigstens den Vorteil, dass die Wände der Grube senkrecht blieben und nicht immer wieder Erde zurückrieselte. Außer dem Knirschen der Spaten hörte man nur das Keuchen ihres Atems. Ab und zu schrie ein Waldkauz. Emily musste daran denken, wie Marie und sie noch vor wenigen Tagen geplant hatten, im Baumhaus zu übernachten. Sie hatten sich ausgemalt, was für ein Nervenkitzel es wohl wäre, eine Nacht im Wald zu verbringen.
Nervenkitzel! Den hatten sie ja jetzt im Übermaß.
Nach einer weiteren Stunde konzentrierten Arbeitens stand Janna bis zur Hüfte in der Grube. Sie wechselten sich nun ab, da nur eine Person in dem länglichen Loch Platz zum Schaufeln hatte. Sie redeten kaum noch. Nach jeder Pause wurde die ungewohnte Arbeit noch schwerer, doch beharrlich gruben sie sich Stück für Stück
Weitere Kostenlose Bücher