Waldesruh
dann mit ihrem kleinen Bruder anstellen würde, und folgte Emily in den Garten. Gemeinsam durchstreiften sie das taunasse Gras und riefen immer wieder seinen Namen. Am Schluss inspizierten sie den Holzschuppen, in dem neben Brennholz für den Kamin auch Gartengeräte und Werkzeug gelagert wurden. »Das ist sein Lieblingsversteck«, sagte Marie.
Doch Moritz blieb verschwunden.
Nach einer Viertelstunde gingen sie zurück ins Haus, wo Janna ratlos in der Küche stand. Sie war den Tränen nahe. »Wir müssen noch mal zurück in den Wald. Vielleicht ist er doch aufgewacht, hat uns gesehen und ist uns nachgelaufen.«
Für Sekunden herrschte Schweigen. Keiner gefiel die Vorstellung, im Wald nach Moritz zu suchen. Aber die Angst war stärker als die Erschöpfung.
Sie waren schon an der Tür, als Janna sagte: »Stopp!«
Die anderen beiden blieben stehen.
»Da war was. Hört ihr das?«
Emily und Marie machten die Haustür wieder zu und lauschten. Es war still. Nur das Ticken der Uhr auf dem Sims des Kachelofens durchbrach die Stille. Dann hörten sie es auch. Ein Knurren, ein Keuchen...
»Das kommt von da unten.« Marie deutete auf die steile, hölzerne Treppe, die vom Wohnzimmer aus in den ersten Stock führte.
»Ich Trottel! Die Besenkammer!« Janna stürzte auf die kleine Tür zu, die in die Holzverkleidung unter der Treppe eingelassen war. Moritz hatte den staubigen Winkel gemieden, seit ihm Marie erzählt hatte, dass dort drinnen Riesenratten hausten, die noch nie das Tageslicht erblickt hatten und nur darauf warteten, dass so eine fette Beute wie Moritz vorbeikäme.
Janna riss die Tür auf. Barfüßig und im Schlafanzug hockte Moritz zwischen Staubsauger, Besen, Eimer und Putzmitteln. Sein Kopf lehnte an der Wand und aus einem Mund kamen leise Schnarchtöne.
»Oh, ich könnte ihn...« Marie vollführte eine pantomimische Geste des Erwürgens.
»Wir legen ihn am besten auf das Sofa, damit er nicht wach wird«, sagte Janna und wischte sich erleichtert über die Stirn. »Emily kann ja sein Bett benutzen.«
Moritz bekam von seinem Transport nichts mit. Er hörte auf zu schnarchen und rollte sich in der Sofaecke zusammen wie eine Katze. Minuten später sanken auch die restlichen Bewohner des Hauses in einen tiefen, schweren Schlaf und nicht einmal die zwei Güterzüge, die kurz danach vorbeidonnerten, konnten sie aufwecken.
Erst kurz bevor der Wecker klingelte, kamen die Träume. Emily träumte von der Grabstelle im Wald. Sie war mit Laub bedeckt und es wuchsen Blumen darauf, Veilchen. Doch dann sah sie, wie sich aus der lockeren Erde heraus Frau Holtkamps gelbliche, knochige Hand nach oben wühlte und sich die Finger wie ein Blütenkelch öffneten. Marie sagte, es würde genügen, die Hand zu berühren, dann wäre ihre Großmutter wieder le bendig. Doch als Emily das tat, umklammerte die Hand ihre Finger wie eine eiserne Kralle und zog sie hinab, immer weiter hinunter in die dunkle Erde, aus der es kein Entrinnen gab.
»Kannst du mir sagen, warum du da reingekrochen bist?«, wollte Janna von Moritz wissen. Sie saßen in der Küche um den großen Tisch herum. Nach knapp vier Stunden Schlaf war keines der Mädchen wirklich frisch und ausgeruht. Das mit dem Kunstunterricht wäre heute ohnehin nichts geworden, dachte Emily. Sie hatte Blasen an den Händen, konnte kaum einen Löffel halten, geschweige einen Pinsel.
Auf dem Tisch standen Milch, Cornflakes, Müsli und etwas Brot, das aber schon ein wenig hart war.
»Weil der böse Mann da war.«
»Wo war der böse Mann?«
Moritz manschte in seinen Cornflakes herum, ehe er antwortete: »Überall.«
»Ein böser Mann war hier im Haus?«, setzte Janna die Befragung fort.
»M-hm«, nickte Moritz mit vollem Mund.
»Und vor dem hast du dich versteckt.«
»M-hm.«
»So, so«, sagte Janna mühsam beherrscht, aber dann wandte sie sich wütend an Marie. »Das kommt nur von deinen bescheuerten Gruselgeschichten. Davon träumt er schlecht.«
»Das ist ja mal wieder typisch! Jetzt bin ich schuld, nur weil der rumspinnt.«
»Der sagt man nicht«, krähte Moritz, wobei ihm Teile seines Frühstücks aus dem Mund fielen.
»Genau«, pflichtete ihm Janna bei.
»Iss anständig«, herrschte Marie ihren Bruder an. »Unter dei nem Stuhl könnte man ja ein Huhn halten. Wenn du dich nicht benimmst, holen wir die Super-Nanny!«
Prompt begann Moritz zu weinen. »Wo ist Oma? Ich will zu Oma!«
»Das kann ja heiter werden«, seufzte Janna.
»Wir müssen einen Plan machen«, sagte
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