Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Walküre

Walküre

Titel: Walküre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
Vom Netzwerk:
zu bleiben, hatten die Albträume aufgehört.
    Doch dieser Traum unterschied sich von den anderen.
    Er stand mitten in einem riesigen Hof, der von Stacheldrahtzäunen umschlossen war und an dessen fernem Ende eine Reihe niedriger Holzhütten stand. Er brauchte kein Zeichen oder Motto über dem Tor zu lesen, um zu wissen, wo er war. Ihm als Deutschen hatten sich die Bilder tief ins Bewusstsein gebrannt.
    Kein anderer war auf dem Hof, und aus den Hütten erklang kein Laut. Ein geräuschloser Wind wirbelte etwas Staub von der geharkten Erde auf. Er drehte sich langsam um: ganze 360 Grad.
    Sie stand direkt vor ihm.
    »Suchst du mich?«, fragte Irma Grese. Sie war jung – erst neunzehn oder zwanzig –, klein und stämmig und trug ein formloses graues Kleid. Ihre Füße steckten in den Stiefeln, die sie, wie er gelesen hatte, üblicherweise beim Foltern von Häftlingen anhatte. Ihre fast männlichen Züge waren hart und breit, und ihr dünnlippiger Mund war an den Winkeln nach unten gebogen. Sie hatte die blonden Haare aus ihrem Gesicht zurückgebürstet, das zur Hälfte von der Stirn eingenommen wurde.
    »Nein«, erwiderte Fabel, der durch die tiefen Abdrücke des Seils an ihrem Hals und ihrer Kehle abgelenkt wurde. »Ich suche nicht dich, sondern jemanden, der so ist wie du.«
    »Wenn das stimmt«, sagte Irma Grese, »dann hat jemand sie so gemacht wie mich. Verstehst du das?« Die breite Stirn furchte sich. Anscheinend legte sie Wert darauf, dass er sie verstand. »Jemand hat sie wie mich gemacht.«
    »Ich verstehe«, erklärte er.
    Sie musterte Fabel von oben bis unten. »Hast du Angst vor mir?«
    »Nein, ich habe keine Angst vor dir. Ich verachte dich. Außerdem hasse ich alles an dir und alles, was du getan hast. Am meisten verabscheue ich dich, weil du mich Freude über deine Hinrichtung empfinden lässt.«
    »Nein, du hast Angst vor mir. Im tiefsten Innern haben alle Männer Angst vor Frauen. Ihr fürchtet mich, weil ihr alle Frauen fürchtet. Eure Sorge ist, dass sich etwas wie ich tief in jeder Frau verbirgt.«
    »Das ist nicht wahr«, widersprach Fabel. »Euer Geschlecht hat nichts damit zu tun. Du und alle anderen wie du waren Monster. Gewöhnliche, langweilige Niemands. Aber Monster. Ihr habt darauf gewartet, dass jemand eure Käfige öffnet und eure Monstrosität entkommen lässt.«
    »Und für dich sind wir aus unseren Käfigen entkommen, Jan, nicht wahr?«
    Einen Moment lang glaubte Fabel, Christa Eisel vor sich zu haben, dann Viola Dahlke, die Hausfrau, die auf St. Pauli verhaftet worden war, doch dann wurde sie wieder zu Irma Grese. »Wir sind seit zwanzig Jahren dein Leben.«
    Plötzlich, ohne sich zu bewegen, ohne einen Schritt zu machen, rückte Irma Grese näher heran. Ihr Gesicht, dicht an seinem, blickte zu ihm auf. Sie kreischte schrill und unmenschlich, ihre Augen waren grausam, und ihre dunklen Brauen wölbten sich auf der zu großen Stirn unter den blonden Haaren. Sie wirkte furchteinflößend und komisch zugleich. Ihr rechter Arm schoss hoch, und Fabel sah, wie die Zellophanpeitsche im blassen Sonnenlicht glänzte.
    Er wachte auf.
    Fabel drehte sich um und überzeugte sich, dass Susanne noch schlief. Er wollte nicht, dass sie von einem weiteren seiner Albträume erfuhr. So viel Zeit war seit dem letzten vergangen. Susanne war seine Geliebte und hatte ihn gebeten, die Polizei zu verlassen, damit die Träume aufhörten. Doch sie war auch Psychologin, und ihre Sorge hatte zudem professionelle Gründe. Die Träume selbst beunruhigten sie weniger als die unsichtbare Verwirrung, durch die sie ausgelöst wurden. Renate dagegen hatte sich nie Sorgen wegen der Träume gemacht und auch seinetwegen nicht.
    Er stand auf, ging in die Küche und kochte sich eine Tasse Tee. Es dauerte immer noch recht lange, Dinge in der neuen Wohnung zu finden. Im Geist – und besonders in den frühen Morgenstunden – wohnte er immer noch in seinem Apartment in Pöseldorf.
    Das Telefon klingelte. Es war 5.40 Uhr.
    »Wenn das jetzt nicht wichtig ist...«, rief er in die Muschel.
    »Ist es aber.« Es war Glasmacher, ein Mitarbeiter der Mordkommission. »Ich bin um die Ecke in Altona. Wir haben sie, Chef... Wir haben den Engel.«
     
2.
    Der Wohnblock war abgesperrt worden, und man hatte auf der Straße in fünfzig Meter Entfernung von beiden Seiten des Eingangs Barrieren errichtet, doch das Mediengedränge blieb vorläufig aus. Die Kunde hatte sich noch nicht verbreiten können. Fabel brauchte nur zehn Minuten, um den

Weitere Kostenlose Bücher