Walküre
hoffe, Sie haben es sich in Ihrem Hotel bequem gemacht, Sylvie.«
An der kurzatmigen Stimme erkannte sie sofort, dass es Siegfried war. »Wieso glauben Sie denn, dass ich in einem Hotel bin?«, fragte sie.
»Reden Sie doch kein dummes Zeug, Sie sind eine kluge Frau. Immer noch auf der Spur der großen Story? Sie denken wohl, dass Sie mich nun, nachdem Sie meinen Namen haben, aufspüren können und nichts für meine Informationen zu bezahlen brauchen. O ja, ich weiß Bescheid über Ihre Plauderei mit Herrn Wengert.«
»Ihr Stasi-Gauner habt eure Ohren wohl überall?«
»Es gibt keine Stasi mehr, Sylvie. Und ich lasse mich nicht gern als Gauner bezeichnen. Was wir getan haben, entsprach unserer Überzeugung. Wir glaubten an Gleichheit und Freiheit von Armut und Ausbeutung. Und deshalb werden wir nun mit den Nazis verglichen. Und natürlich arbeiten einige von uns nun zu ihrem eigenen Schutz zusammen.« Er hatte einen plötzlichen Hustenanfall. »Aber ich bin nicht bereit, mich vor Ihnen zu rechtfertigen. Schon gar nicht vor Ihnen. Haben Sie mein Geld?«
»Meinen Sie, ich würde eine Viertelmillion Euro nur auf der Basis von drei Fotos und dem Namen von jemandem, der nicht existiert, auf den Tisch legen?«
»Der nicht zu existieren scheint ... Drescher und die Mädchen waren an einer so geheimen und ehrgeizigen Operation beteiligt, dass alles unternommen wurde, selbst die Befehlshierarchie innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit im Dunkeln zu lassen. Außerdem habe ich Ihnen doch ein bisschen mehr ä conto geliefert. Einfach um zu beweisen, dass ich tatsächlich über die nötigen Informationen verfüge. Werfen Sie einen Blick unter Ihr Kissen.«
Sylvie schob die Hand unter dem Kissen entlang, bis sie ein Objekt berührte. Es war ein großer brauner Umschlag.
»Wie haben Sie ... ?«
»Na, na, Sylvie«, wurde sie von der heiseren Stimme unterbrochen. »Seien Sie nicht so naiv. Wir sind dazu ausgebildet worden, unentdeckt in private Bereiche vorzudringen. Sie hören von mir.«
Die Leitung war tot. Sylvie versuchte, die Nummer des Anrufers nachzuprüfen, doch die Clip-Funktion war gesperrt.
Sie öffnete den Umschlag. Er enthielt eine Zeitschrift und vier Blatt Schreibpapier. Die Zeitschrift trug den Titel Muliebritas und schien eine feministische Publikation zu sein. Sie blätterte die Seiten rasch durch, um herauszufinden, ob etwas hineingestopft war oder ob Siegfried etwas gekennzeichnet hatte. Nichts. Sie würde den Inhalt später genauer durchsehen. Vorläufig war für sie nur von Interesse, dass Muliebritas von Bransted Publishing, einem Unternehmen der NeuHansa Group, verlegt wurde.
Sylvie wandte ihre Aufmerksamkeit den vier Papierblättern zu. Drei von ihnen zeigten je eines der Bilder, die Siegfried ihr per E-Mail geschickt hatte. Allerdings stand diesmal ein Name unter jedem der Gesichter. Margarethe Paulus, Liane Kayser, Anke Wollner. Das vierte Blatt enthielt erneut den Namen Georg Drescher, doch diesmal wurde er durch ein Bild ergänzt: das eines Mannes von vierzig bis fünfundvierzig Jahren. Er hatte ein kräftiges, attraktives Gesicht mit tiefen Furchen auf den Wangen und Fältchen um die Augen, als sei er es gewohnt zu lächeln. Seine freundliche Miene schien im Widerspruch zu den Uniformaufschlägen zu stehen, die ihn als Offizier des MfS auswiesen. Im Unterschied zu den anderen Fotos war es schwarzweiß, weshalb sich schwer feststeilen ließ, ob seine Haare blond oder angegraut waren. Da seit zwanzig Jahren niemand mehr eine Stasi-Uniform getragen hatte, versuchte Sylvie, ihn vor ihrem geistigen Auge altern zu lassen.
Erneut betrachtete sie die Bilder der jungen Frauen. Alle waren hübsch, doch sie schauten ausdrucks- und emotionslos in die Kamera. Wieder fiel Sylvies Blick auf das Mädchen mit den schrecklich leeren Augen.
Liane Kayser. Sie hieß Liane Kayser.
11.
Ute Cranz schleppte Drescher noch weiter in die Küche. Er sah, wie sie mit einem Skalpell in der Hand über ihm verharrte. Ihm war übel, und plötzlich dachte er, welch eine Erleichterung es wäre, sich erbrechen zu können. Doch das Muskelrelaxans musste seinen Würgreflex ausgeschaltet haben, und er würde an seinem eigenen Erbrochenen ersticken. Ohne zu husten. Ohne Widerstand. Jedenfalls wäre es besser als das, was Ute Cranz mit ihm zu tun beabsichtigte. Sie zerrte an seiner Kleidung, und das Skalpell sauste nach unten. Er spürte jedoch keinen Schmerz, denn sie durchschnitt seine Kleidung und riss ihm die
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