Walküre
Schmerz durchzog durch die Dauerbelastung immer heftiger das ganze Bein. Die Strecke bis zu ihrem Auto wäre nicht sonderlich weit gewesen, wenn sie einfach den Mittelweg hätte entlanggehen können. Doch sie wusste, dass die Polizei dort mittlerweile alle einzelnen Frauen überprüfte. Dadurch war sie gezwungen, einen langen Umweg zu machen, was die Strecke mehr als verdreifachte.
Nachdem sie um die Ecke gebogen war, sah Anke zu ihrer Erleichterung, dass ihre Lexus-Limousine noch auf dem Parkplatz stand. Sie ließ sich auf den Ledersitz sinken, streckte ihr verletztes Bein aus und gestattete sich einen Moment der Ruhe. Dann schob sie die Hand hinten in ihren Stiefel und spürte, dass sich das Leder voll Blut gesogen hatte. In ihrer Wohnung würde sie die Wunde vernähen müssen, was wegen deren Lage nicht leicht war.
Sie lehnte den Kopf an die Nackenstütze und schloss ein paar Sekunden lang die Augen. Plötzlich hörte sie ein Klopfen und wandte sich jäh dem Seitenfenster zu. Blitzschnell erfasste sie die Situation: eine sehr junge Polizistin, allein, Fußpatrouille, unerfahren. Alle anderen jagten die Mörderin aus dem Alsterpark. Anke ließ lächelnd die Scheibe heruntergleiten.
»Ist das Ihr Fahrzeug?«
»Ja. Gibt es ein Problem?«
»Sie parken zu lange hier. Ich muss Ihnen einen Strafzettel erteilen. Wie heißen Sie, bitte?«
Du vergleichst meinen Namen mit der Datenbank, dachte Anke. Mein Kennzeichen hast du schon weitergemeldet. Damit waren ihre bisherige Identität und ihre Adresse erfasst und unbrauchbar geworden.
»Jana Eigen.« Das war der Name, den sie seit zehn Jahren führte. Ein Name, der so real für sie geworden war wie Anke Wollner. Nun hatte sie auch ihn verloren.
»Zeigen Sie mir bitte Ihren Führerschein und Personalausweis.« Die junge Polizistin gab sich alle Mühe, Autorität auszustrahlen. Anke schätzte, dass sie um die dreiundzwanzig Jahre alt war: hübsch, mit dunklen Haaren unter der Schirmmütze.
Ihre blaue Polizeijacke war eine Nummer zu groß, was ihr ein fast kindliches Aussehen verlieh.
»Natürlich«, erwiderte Anke und griff in die Umhängetasche, die neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. »Hier ...«
Ihre erste Kugel traf die Polizistin in die Kehle, und die junge Frau brach neben dem Auto zusammen. Anke öffnete die Tür, die an den Körper der Beamtin stieß. Sie musste sich durch die Lücke hindurchzwängen, wodurch sich die Schmerzen in ihrem Bein verstärkten. Die Schutzpolizistin lag mit dem Gesicht nach unten da, und ihre übergroße blaue Regenjacke mit dem weißen Wort POLIZEI war aufgebauscht und erinnerte an einen Schildkrötenpanzer. Ein scheußliches feuchtes Gurgeln drang aus ihrem Mund, und sie versuchte davonzukriechen. Anke feuerte eine zweite Kugel in den Hinterkopf der Polizistin, die nun still liegen blieb. Anke hörte Schreie von Zeugen – sie musste sich beeilen. Die Leiche blockierte das Auto, und Anke blieb nichts anderes übrig, als sie auf die Fahrbahn zu zerren. Dann sprang sie in den Wagen und raste davon.
Sie würde das Auto schleunigst loswerden und einen Unterschlupf finden müssen.
4.
Es war im Großen und Ganzen so verlaufen, wie Fabel erwartet hatte. Van Heiden war nicht ausgerastet und hatte Fabel auch keinen Vortrag gehalten; er hatte eher durch Schweigen als durch Worte deutlich gemacht, dass die Situation nicht schlechter sein konnte und dass die Axt, wenn sie denn fiel, direkt auf Fabels Nacken landen würde.
Die Aufmerksamkeit der Medien war nicht förderlich gewesen. In sämtlichen Nachrichtensendungen und auf jedem Kanal – und nicht bloß in Hamburg – wurde über den Schusswechsel auf dem Harvestehuder Weg berichtet. Das Präsidium wurde belagert wie eine mittelalterliche Festung. Sendewagen parkten draußen, und Fernsehteams richteten ihre Kameras auf das Gebäude. Und Fabel wurde mitgeteilt, dass Sylvie Achtenhagen versucht habe, ihn zu erreichen.
»Sie hat gesagt, es sei sehr dringend«, informierte ihn der Polizist am Empfang.
»Das kann ich mir denken«, erwiderte Fabel, knüllte den Zettel zusammen, lehnte sich über den Tresen und ließ das Kügelchen in den Papierkorb fallen.
Nach dem Gespräch mit van Heiden rief Fabel Werner an, der mit ins Krankenhaus gefahren war. »Wie geht's Anna?«
»Sie ist noch im Operationssaal«, antwortete Werner. »Ich gebe dir Bescheid, sobald sie herauskommt. Versuch, dir nicht allzu große Sorgen zu machen. Sie ist zäher als wir beide zusammen.«
Nachdem Fabel den
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