Wallander 09 - Der Feind im Schatten
presste ihn gegen von Enkes Kinn. Gleichzeitig rief er Sten Nordlander zu, er solle nach Handtüchern suchen. Das Austrittsloch ging durch die Wange. Es war Håkan von Enke nicht gelungen, sich mit einer Kugel ins Gehirn zu töten.
»Er hat schief geschossen«, sagte Wallander, als StenNordlander ihm ein Laken hinhielt, das er aus dem Bett gerissen hatte.
Håkan von Enkes Augen waren geöffnet, aber nicht gebrochen.
»Drücken«, sagte Wallander und zeigte Sten Nordlander, was er tun sollte.
Er nahm sein Handy und wählte die Notrufnummer. Keine Verbindung. Er lief nach draußen und kletterte auf einen Felsen hinter dem Haus. Auch hier bekam er keine Verbindung. Er kehrte ins Haus zurück.
»Er wird verbluten«, sagte Sten Nordlander.
»Du musst fest drücken«, sagte Wallander. »Das Telefon funktioniert nicht. Ich muss Hilfe holen. Manchmal ist das Netz hier draußen zu schwach.«
»Ich glaube nicht, dass er durchkommt.«
»Wenn er stirbt, werden wir nie erfahren, was eigentlich geschehen ist.«
Sten Nordlander kniete neben dem blutenden Mann. Er blickte mit weit aufgerissenen Augen zu Wallander auf. »War das wirklich wahr?«
»Du hast uns gehört. Oder?«
»Jedes Wort. Ist es wahr?«
»Alles ist wahr. Was ich gesagt habe und was er gesagt hat. Er war ungefähr vierzig Jahre lang Spion für die USA. Er hat unsere Streitkräfte verkauft, und er muss es gut gemacht haben, wenn die Amerikaner ihn für so wertvoll hielten, dass sie nicht einmal zögerten, seine Frau zu ermorden.«
»Es ist mir unmöglich, das zu verstehen.«
»Dann haben wir einen Grund mehr, zu versuchen, ihn am Leben zu erhalten. Nur er allein kann es uns sagen. Ich hole Hilfe. Es wird einige Zeit dauern. Wenn du verhindern kannst, dass er zu viel Blut verliert, schaffen wir es vielleicht.«
Wallander war schon auf dem Weg zur Tür, als StenNordlander ihm hinterherrief: »Gibt es wirklich keinen Zweifel?«
»Gar keinen.«
»Das bedeutet, dass er mich mein ganzes Leben lang getäuscht hat.«
»Er hat alle getäuscht.«
Wallander verließ das Haus und rannte hinunter zum Boot. Mehrmals stolperte er und fiel. Als er zum Wasser kam, merkte er, dass der Wind stärker geworden war. Er machte die Leine los, schob das Boot ins Wasser, sprang hinein und konnte den Motor beim ersten Anreißen starten. Es war so dunkel, dass er sich fragte, ob er den Hafen finden würde.
Er hatte das Boot gerade gewendet und wollte Gas geben, als er den trockenen Knall eines Schusses hörte. Kein Zweifel, es war eine Waffe, die abgefeuert wurde. Das Geräusch kam aus der Jagdhütte. Er nahm das Gas weg und lauschte. Hatte er sich doch verhört? Er wendete und fuhr zum Ufer zurück. Als er aus dem Boot sprang, landete er im Wasser und spürte, wie es in die Schuhe eindrang. Er horchte auf neue Geräusche. Der Wind nahm weiter zu. Er holte seine Schrotflinte heraus und lud sie. Waren doch noch andere Menschen auf der Insel, von denen er nichts wusste? Mit dem Gewehr in der Hand kehrte er zur Jagdhütte zurück. Er bewegte sich so leise wie möglich und blieb stehen, als er das schwache Licht durch die Spalten zwischen den Gardinen fallen sah. Kein Laut, nur das Rauschen des Windes in den Baumkronen und vom Meer.
Als er sich auf die Tür der Jagdhütte zubewegte, knallte es wieder. Der gleiche trockene Knall. Er warf sich auf den Boden und lag unbeweglich, das Gesicht an die feuchte Erde gepresst. Mit den Händen schützte er seinen Kopf, das Gewehr hatte er losgelassen. Jede Sekunde erwartete er, dass es vorbei wäre.
Aber niemand kam. Schließlich wagte er es, sich aufzusetzenund nach seinem Gewehr zu greifen. Langsam stand er auf und näherte sich in geduckter Haltung der Tür. Bevor er öffnete, schlug er zweimal hart gegen den Türrahmen. Nichts rührte sich drinnen. Er rief, ohne dass Sten Nordlander antwortete. Zwei Schüsse, dachte er fieberhaft und versuchte zu verstehen, was das bedeutete.
Er konnte es nicht wissen. Aber er ahnte es. Er sah Sten Nordlanders Gesicht vor sich, als er gefragt hatte: Gibt es wirklich keinen Zweifel?
Wallander schob die Tür auf und trat ein.
Håkan von Enke war tot. Sten Nordlander hatte ihn in die Stirn geschossen. Anschließend hatte er die Waffe auf sich selbst gerichtet und lag jetzt tot auf dem Boden neben seinem früheren Freund und Kollegen. Wallander dachte verzweifelt, dass er es hätte vorhersehen müssen. Sten Nordlander hatte dort draußen in der Dunkelheit gestanden und gehört, dass Håkan von
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