Wallander 09 - Der Feind im Schatten
nicht mehr aus, nur Mutter zu sein.«
»Aber es sind doch nur noch vier Monate, bis du wieder in den Dienst gehst?«
»Vier Monate können eine sehr lange Zeit sein. Ich merke, dass ich allmählich die Geduld verliere.«
»Mit Klara?«
»Mit mir selbst.«
»Das hast du wohl von mir geerbt. Die Ungeduld.«
»Sagst du nicht immer, Geduld wäre die höchste Tugend für einen Polizisten?«
»Das heißt aber nicht, dass Geduld sich von allein einstellt.«
Sie trank einen Schluck Kaffee und dachte über seine Worte nach.
»Ich fühle mich alt«, sagte Wallander. »Jeden Tag erwache ich mit dem Gefühl, dass es so wahnsinnig schnell geht. Ich weiß nicht, ob ich hinter etwas herlaufe oder vor etwas davonlaufe. Ich laufe nur. Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich große Angst vor dem Altwerden.«
»Denk an deinen Vater! Der machte einfach immer weiter und kümmerte sich nicht darum, dass er älter wurde.«
»Das stimmt nicht. Er hatte Angst, zu sterben.«
»Vielleicht manchmal. Aber nicht dauernd.«
»Er war ein eigentümlicher Mann. Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand mit ihm vergleichen kann.«
»Ich tue das.«
»Du hattest ein Verhältnis zu ihm, das ich schon als sehr junger Mann verloren habe. Ich denke manchmal daran, dass er auch immer ein besseres Verhältnis zu meiner Schwester Kristina hatte. Vielleicht war es auch ganz einfach so, dass er mit Frauen leichter umgehen konnte. Ich wurde mit dem falschen Geschlecht geboren. Er wollte nie einen Sohn haben.«
»Das ist doch Unsinn, und das weißt du.«
»Unsinn oder nicht, es sind jedenfalls Gedanken, die mir durch den Kopf gehen. Ich habe Angst vor dem Alter.«
Sie streckte plötzlich die Hand aus und berührte seinen Arm. »Ich habe bemerkt, dass du beunruhigt bist. Aber im Innersten weißt du, dass es sinnlos ist. Gegen sein Alter kann man nichts machen.«
»Ich weiß«, sagte Wallander. »Aber manchmal kommt es mir vor, als wäre Klagen das Einzige, was mir bleibt.«
Sie unterhielten sich, bis Klara wach wurde und glücklich lachend auf Wallander zulief.
Plötzlich überkam ihn ein furchtbarer Schrecken. Sein Gedächtnis ließ ihn wieder im Stich. Er wusste nicht, wer das Mädchen war, das auf ihn zurannte. Er hatte sie schon einmal gesehen, aber wie sie hieß und was sie hier tat, er hatte keine Ahnung.
Es war, als würde es vollkommen still. Als verschwänden die Farben und ließen ihm etwas in Schwarz und Weiß zurück.
Der Schatten hatte sich vertieft. Und langsam sollte Kurt Wallander in einem Dunkel verschwinden, das ihn einige Jahre später in das leere Universum entließ, das Alzheimer heißt.
Danach ist nichts mehr. Die Erzählung von Kurt Wallander geht unwiderruflich zu Ende. Die Jahre, die er noch zu leben hat, vielleicht zehn, vielleicht mehr, sind seine eigene Zeit, seine und Lindas, seine und Klaras, keines anderen Menschen Zeit.
Nachwort
In der Welt der Fiktion sind viele Freiheiten möglich. Es ist zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass ich eine Landschaft verändere, damit niemand sagen kann: Genau da war es! Genau hier hat die Handlung sich abgespielt!
Dahinter steht natürlich die Absicht, den Unterschied zwischen dem Fiktiven und dem Dokumentarischen hervorzuheben. Was ich schreibe, könnte so geschehen sein, wie ich es erzähle. Aber es ist nicht notwendigerweise so gewesen.
Im vorliegenden Buch gibt es viele solcher gleitenden Übergänge zwischen dem, was wirklich geschehen ist, und dem, was denkbar gewesen wäre.
Wie die meisten Autoren schreibe ich, damit die Welt auf die eine oder andere Weise begreiflicher wird. Dabei kann die Fiktion dem dokumentarischen Realismus durchaus überlegen sein.
Da spielt es keine Rolle, ob es irgendwo im mittleren Schweden ein Pflegeheim mit Namen Niklasgård gibt oder nicht. Auch nicht, ob im Stockholmer Stadtteil Östermalm ein Festlokal existiert, das von Marineoffizieren besucht wird. Oder ein Café irgendwo am Stadtrand, das dem gleichen Zweck dient. Wo zum Beispiel ein U-Boot-Kapitän namens Hans-Olov Fredhäll auftauchen kann. Madonna hat 2008 auch kein Konzert in Kopenhagen gegeben.
Aber das Wichtigste in diesem Buch ruht auf dem soliden Fundament, das die Wirklichkeit ausmacht.
Viele waren mir bei den Vorarbeiten behilflich. Ihnen allen danke ich.
Für den Inhalt und den letzten Punkt bin jedoch ich verantwortlich. Ganz und gar, ohne Ausnahme.
Göteborg im Juni 2009
Henning Mankell
Über den Autor
Henning Mankell, geboren 1948 in Härjedalen,
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