Zwei Herzen im Winter
1. KAPITEL
Barfleur, Normandie – im Jahr 1135
Fröstelnd zog Emmeline den Wollumhang enger um ihre Schultern und die weite Kapuze tief in die Stirn. Sie war aus dem Haus zum Hafen gelaufen, ohne sich die Zeit zu nehmen, ihre blonde Haarmähne zu flechten – und hatte sich damit ein missbilligendes Zungenschnalzen und eine tadelnde Bemerkung ihrer Mutter eingehandelt. Emmeline legte keinen Wert auf ihre äußere Erscheinung, wünschte aber, sie hätte sich ein zusätzliches warmes Untergewand angezogen. Wichtig war ihr nur zu wissen, ob die Belle Sau mur endlich von der Fahrt durch den Ärmelkanal heimgekehrt war.
Ein scharfer Wind wehte die Flussmündung herauf über die Mole, fuhr ihr unter die Röcke bis in die Knochen. Die Kälte verschlimmerte den Schmerz in ihrem verletzten Fuß, dem sie allerdings keine Beachtung schenkte, da ihre ganze Aufmerksamkeit dem Schiff ihres Vaters galt. Ihrem Schiff. Tatsächlich lag die Belle Saumur in einiger Entfernung im offenen Meer, knapp hinter dem Leuchtturm, der die Flussmündung markierte. Dieu merci! Gott hatte ihre Gebete erhört. Eine Welle der Erleichterung durchströmte sie: Das Schiff war ihr einziger Besitz, sicherte ihrer Mutter und ihr einen bescheidenen Lebensunterhalt und gestattete ihr ein freies Leben. Sie war keinem Herrn und Gebieter Rechenschaft schuldig – auch keinem Ehemann. Sie wünschte nur, ihre Mutter würde das ebenso sehen wie sie, statt sie ständig zu bedrängen, wieder zu heiraten. Eine Vorstellung, die ihr gründlich zuwider war, vor der ihr graute.
Mit zusammengekniffenen Augen gegen die grelle Morgensonne, deren Strahlen durch den Nebel drangen, beobachtete sie zwei Männer an Bord, die den Anker geworfen hatten und nun an der Leine zogen, um zu prüfen, ob er Grund gefasst hatte. Offenbar war die Belle Saumur gerade erst eingelaufen. Das riesige Rahsegel flatterte schlaff im Wind, nachdem die Mannschaft die Taue gelöst, die Fock aber noch nicht aufgerollt hatten. Der bauchige Rumpf lag tief im Wasser, ein Zeichen dafür, dass der Frachtraum voll beladen war. Mittlerweile hatten drei Lastkähne das Schiff erreicht, um die Fracht zu löschen. Um diese Tageszeit herrschte Ebbe, und der Wasserstand war zu niedrig, um das Schiff direkt an der Mole zu entladen. Monsieur Lecherche, ihr Schiffsführer, musste noch einige Zeit warten, bevor die Belle Saumur im sicheren Hafen vertäut werden konnte.
„Madame de Lonnieres, Madame de Lonnieres!“ Geoffrey Beaufort, ein wohlhabender Kaufmann aus Barfleur, winkte ihr aus einem Frachtkahn zu. Der flache Kiel des Ruderboots knirschte über den groben Kies an Land. Geoffrey sprang über den Bootsrand, watete mit seinen schweren Lederstiefeln durchs seichte Wasser und rannte ihr auf den Bohlen des Landestegs zur Begrüßung entgegen.
Emmeline umarmte ihn herzlich und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter seines feuchten, vom Salzwasser klebrigen Mantels. „Dem Herrn sei Dank, dass du wohlbehalten wieder daheim bist. In den letzten Tagen gab es Schreckensmeldungen über Stürme im Kanal …“
Geoffrey registrierte mit Besorgnis die dunklen Ringe der Erschöpfung unter ihren leuchtend grünen Augen. „Du sollst dir nicht so viele Gedanken machen, Emmeline. Du siehst müde aus.“
„Die Belle Saumur ist mein einziger Besitz“, antwortete sie ausweichend und zog die Kapuze tiefer über das blonde Haar.
„Dein Bootsführer und seine Mannschaft sind die erfahrensten Seefahrer weit und breit.“
Sie nickte. „Das ist ja auch der Grund, warum ich keine andere Mannschaft anheure.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich war wirklich besorgt, Geoffrey. Ihr hattet euch um mehr als eine Woche verspätet.“
Der Kaufmann legte seine fleischige gerötete Hand ans Herz. „Das ist allein meine Schuld, Emmeline. Bitte verzeih, aber ich wollte unbedingt den großen Markt in Winchester abwarten, der nur einmal im Jahr stattfindet. Es wäre eine Schande gewesen, ihn zu verpassen. Dort werden die besten flandrischen Tuche angeboten, die ich hier mit großem Gewinn verkaufen kann.“ Er bemerkte ihr Stirnrunzeln. „Sei unbesorgt, ich bezahle selbstverständlich für die zusätzliche Zeit. Diese Zusage habe ich Monsieur Lecherche bereits gegeben.“ Er verzog seine rissig aufgesprungenen Lippen zu einem schuldbewussten Lächeln. „Sieh nur, wie viel Ware ich mitgebracht habe. Und ich habe alle Weinbestände verkauft.“ Emmeline blickte zum flachen Uferstreifen hinüber, wo ein Kahn entladen
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