Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
besonders verlockend, und darum waren die Richter insbesondere darauf bedacht, jeden für schuldig zu erklären, der ihnen die Lebensgrundlage durch neue Reformvorschläge zu entziehen versuchte. Andererseits waren ihnen Leute, die häufig vor Gericht standen, natürlich stets willkommen, weil es für jeden Prozeß auch ein Schwurgericht geben mußte, und deshalb wurden die Angeklagten nur sehr selten wegen irgendeines Vergehens verurteilt, auch dann nicht, wenn sie tatsächlich schuldig waren.
Mehr oder weniger hat sich Athen auf diese Weise zur reinsten und vollkommensten Demokratie entwickelt, die die Welt jemals gesehen hat. Eine Demokratie, in der jedermann das Recht hatte, gehört zu werden, allen der Rechtsweg offenstand und niemand hungern mußte, wenn er es nicht allzusehr unter seiner Würde empfand, seinen Beitrag zur Unterdrückung von Mitbürgern und zum 74
Justizmord an unbequemen Staatsmännern zu leisten. Als Nebenprodukte dieses Systems fielen eine Vervollkommnung der Redekunst und eine allgemeine Liebe zum gesprochenen Wort in seinen feinsten und kultiviertesten Formen ab, wobei von letzterer sämtliche Gesellschafts-schichten erfaßt wurden. Kein Wunder, daß wir ein Volk der Ästheten sind.
Das einzige Problem war Sparta. Seit Zeus, dessen Humor uns Sterblichen nicht besonders ansprechend erscheint, Athen und Sparta auf denselben Landstreifen gesetzt hat, gab es zwischen den beiden Städten Krieg.
Athener und Spartaner um ein friedlich Miteinander zu bitten, ist ganz so, als erwarte man von der Nacht, sich mit dem Tag zu vermählen, oder vom Winter, mit dem Sommer ein Angriffs- und Verteidigungsbündnis einzugehen. Weil die Spartaner fraglos über die besten Landstreitkräfte in der Welt verfügten, zogen sie aus den Kriegen im allgemeinen auch den größten Nutzen. Doch da die spartanische Bevölkerung zahlenmäßig gering war und zudem die meiste Zeit damit verbrachte, das eigene Reich im Süden Griechenlands an die Vorzüge unerschütterlicher Treue zu erinnern, war Sparta nie in der Lage, dauerhafte Maßnahmen gegen seinen Erzfeind zu ergreifen, wie zum Beispiel Athen niederzubrennen und Salz auf die Asche zu streuen.
Sparta war zwar während der Perserkriege dem Namen nach Führer des Peloponnesischen Bunds gewesen, aber kaum hatte sich herausgestellt, daß die Perser nur auf dem Meer zu besiegen waren, war die wirkliche Führung an Athen übergegangen. Da die Spartaner gleich nach 75
Kriegsende mit innenpolitischen Auseinandersetzungen zu tun hatten, konnten sie uns damals auch nicht daran hindern, unser Reich in der vorhin von mir beschriebenen Weise aufzubauen. Kaum hatten sie ihre innenpolitischen Probleme im Griff, begannen sie allerdings, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Ihnen war natürlich klar, daß das Attische Reich nach Erreichen einer gewissen Stärke seine gesamte neugewonnene Kraft daransetzen würde, Sparta in Grund und Boden zu stampfen, um die unterworfenen Völker zu befreien und das einzige ernstzunehmende Hindernis für die Vormacht Athens in Griechenland aus dem Weg zu räumen. Mit einem sogar für sie beachtlichen Maß an Scheinheiligkeit ernannten sich die Spartaner deshalb selbst zum Fürsprecher der unterdrückten und versklavten Völker und verlangten, daß wir sofort die Flotte auflösen und damit aufhören sollten, von unseren Verbündeten Tribut zu erpressen.
Auf diese Weise kam es zwischen Athen und Sparta zum sogenannten Peloponnesischen Krieg, das war elf Jahre nach meiner Geburt. Einer der ersten gefallenen Athener war mein Vater, der mit den Expeditionsstreitkräften nach Poteidaia gezogen war. Doch zurück zu Themistokles.
Schon mehr als dreißig Jahre vor Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs hatte dieser Mann zweifelsfrei bewiesen, daß er der vernünftigste und klügste Mann in ganz Athen gewesen war, und dafür die unvermeidliche Strafe erhalten, nämlich zunächst die Verbannung durch Ostrakismos und einige Jahre später die Verurteilung zum Tode wegen angeblichen Hochverrats. Soweit ich mich erinnere, konnte er damals jedoch fliehen und begab sich 76
umgehend an den Hof des persischen Großkönigs, der ihn mit drei Städten belehnte. Vielleicht hätte Themistokles sogar noch bis ins hohe Alter weitergelebt, wenn es ihm gelungen wäre, seine Klugheit etwas geschickter zu verbergen. Aber immerhin brachte er es fertig, nicht von fremder Hand getötet zu werden, denn er nahm sich durch das Trinken von vergiftetem Stierblut selbst das Leben
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