Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
wirklich tot?« Alex hebt bedauernd die Schultern. »In meinem Sack ist er nicht. Wird wohl auf dem Friedhofliegen.« – »Und Aki, Aki habe ich den ganzen Tag über nicht gesehen. Als wär er nur ein Zigeunergeist. « – »Der ist auf Brautschau und trägt zur Abwechslung ganze Bäume zum Walpurgisfeuer.« Alex sammelt noch schnell Gottfried und Bartuschewski ein. »Die hätte ich fast vergessen, meine kleine, süße Polente. Noch was, Hilfe, mein Gedächtnis lässt nach. Es ist Zeit für die Statistik, Liebig.«
    Alex holt ein großes Buch aus dem Rucksack, wischt mit dem Ärmel darüber, denn Stalin hat auf den Deckel geblutet, und reicht es Liebig rüber. Dann zaubert er noch einen Stift hervor. » Was darf ich eintragen?«, fragt Liebig etwas gestelzt.
    Alex diktiert: »Nach einer heute zusammengefassten Aufstellung nahm die Polizei in der Walpurgisnacht am Rande beziehungsweise außerhalb von Veranstaltungen insgesamt hundertachtundfünfzig Personen fest. Hauptgrund für die Einlieferungen war in zweiundsechzig Fällen schwerer Landfriedensbruch, gefolgt von Widerstand (einundzwanzig), einfacher Landfriedensbruch (neunzehn), gefährliche Körperverletzung (vierzehn), Verstoß gegen das Versammlungsgesetz (dreizehn) und Sachbeschädigung (acht). Der Rest verteilt sich auf sonstige Delikte wie einfache Körperverletzung und Gefangenenbefreiung. Drei der hundertachtundfünfzig Personen waren strafunmündige Kinder, die nach Feststellung ihrer Identität wieder entlassen wurden. Von den Festgenommenen wurden bisher vierundvierzig einem Richter vorgeführt, davon erhielten neununddreißig Haftbefehle, zwanzig mit Haftverschonung, nur fünf wurden ohne Haftbefehl entlassen. Der älteste der Festgenommenen ist einundachtzig Jahre alt. Am stärksten vertreten waren Sechzehn- bis Vierundzwanzigjährige.«
    » War’s das?«, fragt Alex. Annja und Liebig nicken. »Das hatten wir ja auch schon heftiger.« Alex schließt den Deckel, verstaut das Buch und wendet sich zum Gehen.
    Die drei sind in Höhe der Sonnenburger, als sie von hinten gerufen werden: »Hey, wartet mal, meine Brüder und Schwestern!«
Aki kommt außer Atem bei ihnen an und springt Alex mit einem Satz an den Hals. Warum hast du mir die Frau weggenommen? Du machst immer, was du willst.« Zurück auf dem Boden, hebt Aki Alex mit beiden Armen hoch und schleudert ihn mitsamt dem offenen Rucksack dreimal um seinen Kopf. Klara, Paul und Pauls Mutter fliegen zehn Meter die Gleim runter. »Lass mir doch auch mal ein kleines Spielzeug.« – »Ach, papperlapapp, die war doch gar nicht die Richtige für dich, ’ne Pizzafahrerin, da wirst du nur fett«, sagt Alex, als er wieder auf dem Boden steht. »Du bist ein Kackscheißpuplehrer«, schreit Aki ihn an, während Alex seelenruhig seine Puppen einsammelt. So streiten sie noch eine Weile im Gehen.
    Auf der Gleimstraße nimmt Alex aus einer Laune heraus den kleinen Schwulen aus dem Sack und stellt ihn auf die Schwelle der Bar Schall & Rauch. Gibt ihm auch noch eine weiße Gladiole mit. Annja Kobe sieht es orangefarben leuchten im Inneren des Rucksacks. »Mensch, Alex, schmeiß doch endlich mal diese blöde Kaffeemaschine weg, die ist hässlich und außerdem kaputt.« – »Quatsch, die hab ich repariert, die hatte nur einen Wackelkontakt, die kriegt Aso Aksoy in die Hand und drum herum ihre beiden Kinder und außerdem noch Sugar und Candy.« Dann macht er seinen Sack zu, ehe noch einer auf die Idee kommt, sich weiter über seinen Inhalt auszulassen.
    »Irgendwie ist es doch öde hier«, sagt Annja, als sie über die Schönfließer Behelfsbrücke gehen. Unter ihnen fährt die S-Bahn. (Der zuständige auktoriale Erzähler möchte hier jetzt noch ganz beiläufig, aber nachdrücklich erwähnen, dass die richtige Brücke im Februar 1945 durch eine Luftmine zerstört wurde und nie wieder aufgebaut worden ist. Bis Alex ihn zum Schweigen bringt, indem er ihn über die Brüstung hält.)
    »Irgendwie bin ich ganz froh, dass wir jetzt in Lichtenberg wohnen«, sagt Annja, die den kurzen Zwischenfall nicht bemerkt hat, »es ist doch inzwischen ziemlich langweilig in dieser Gegend. Ich sehne mich nach solchen Leuten wie Onkel Alfons, der seinen Pimmel am Fenster gezeigt und mit Luftgewehren auf rote Fahnen
geschossen hat.« – »Die gibt’s alle noch, du schaust nur nicht richtig hin.« – ? »Liebig, du musst natürlich widersprechen.« – »Der wird hier als Allerletzter übrig bleiben«, sagt Alex. »Aber wo er recht hat,

Weitere Kostenlose Bücher