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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Standuhr begraben, weil es keine Särge gab. Die Uhr war um halb sieben stehen geblieben, als die erste Bombe aufs Haus fiel. Sie hatte einen Big-Ben-Gong, daran erinnert sich Gerda Schweickert genau, weil sie dem Nachbarn immer die Bestellungen aus dem Seifenladen ihrer Mutter im Erdgeschoss anlieferte.
    Die Bombe, die das Haus traf, war auch aus England. Manchmal denkt Gerda Schweickert über diese seltsamen Exportwege nach. Zum Beispiel könnte man dem kleinen Türken, der im Nebenhaus mit Trödel handelt und nebenbei noch ein Import-Export-Geschäft betreibt, die Standuhr schenken. Da würde die Schöneberger Freiheitsglocke bestimmt bald in Istanbul die Zeit ansagen.
    Gerda Schweickert huscht wieder ins Bett. Es ist hell im Zimmer, so ohne Vorhänge. Aber vielleicht wird der Schlaf ja auch
ohne Verdunkelung mit sich reden lassen. Sie will noch ein letztes Mal in ihrer alten Wohnung etwas Schönes träumen, bevor ihr Bett an einem fremden Ort steht.
    An ihrem Rücken bemerkt sie etwas Hartes, das drückt. Sie macht die Nachttischlampe an, um besser sehen zu können, und zieht ihre Sternkarte hervor, die vom Fensterbrett ins Bett gerutscht sein muss.
    Gerda Schweickert dreht die Karte in ihren Händen und sucht das Sternbild Leier. Im Gegensatz zum Großen Wagen, zur Kassiopeia oder dem Orion findet sie es zwar immer auf der Sternkarte, nie aber am Himmel. Rudolf hielt sie deshalb für schwer von Begriff. Im Frühjahr mussten sie zum Leiergucken auf das Plateau des Großen Bunkerberges im Friedrichshain gehen, denn am Aprilhimmel steht das Sternbild im Nordosten, ihr Schlafzimmerfenster geht aber nach Südwesten. Auch mit der Jungfrau am Himmel tat sie sich schwer. Rudolf nannte es »am Himmel hingestrecktes Fötzchen«, aber nur, wenn er betrunken war oder geil oder beides. Am liebsten war es ihr, wenn sie beide bei offenem Fenster im Bett lagen und Rudolf ihr ein Sternbild auf den Rücken malte und sie es erraten musste.
    Die Sternkarte hat Rudolf ihr gleich nach dem Einzug geschenkt, weil sie bei der Besichtigung der Wohnung entdeckten, dass die Kettenmine, die in einer Nacht neun Jahre zuvor vierzehn Häuser der Woldenberger Straße zerstört hatte, ihnen einen großen Batzen Himmel geschenkt hatte. Damals konnte man nicht einfach so in einen Laden gehen, um eine Sternkarte zu kaufen. Rudolf hatte sie auf dem Schwarzmarkt gegen Tabak eintauschen müssen.
    Rudolf hat das Bett so gedreht, dass sie die Sterne auf dem Papier vergleichen kann mit den Sternen am Himmel. Rudolf brauchte diese Hilfe nicht. Er kannte seit seiner Gefangenschaft sämtliche Sternbilder. Nie wieder würde er so einen gigantisch schönen Nachthimmel erleben wie in der kasachischen Steppe, sagte er jedes Mal, wenn sie im Bett lagen und Gerda in sternklaren Nächten vom Himmel über Berlin schwärmte.

    Noch sieben Stunden. Dann werden die Möbelpacker kommen und das Ehebett in zwei Teile zersägen. Was braucht sie denn noch ein so großes Bett?
    Im letzten August hat sie eine Sternschnuppe fallen sehen, aber sie hat ihr kein Glück gebracht. Gerda Schweickert hat sich gewünscht, in der Wohnung bleiben zu dürfen. Sonst hat sie doch alles, die Rente ist ausreichend, und Rudolf kommt durch eine Sternschnuppe auch nicht zurück aus seinem Grab. Manchmal denkt sie, dass es ihr Mann gut unter seinen Radieschen hat. Radieschen, blöder Ausdruck, als wenn sie ihn im Gemüsebeet verbuddelt hätte. Dabei liegt er schön ordentlich im Familiengrab auf dem Georgenfriedhof, unter Primeln und Tulpen, erst gestern ist sie noch mal da gewesen und hat in die Erde geklagt, wie anstrengend diese Umzieherei ist.
    Rudolf muss das ja alles nicht miterleben! Obwohl sie sich gewünscht hätte, dass er erst nach dem 9. November 1989 gestorben wäre. Da hätte er gesehen, dass nichts ewig ist. Leider ist nicht nur das Schlechte nicht ewig. Diese Verbrecher, Diebe, Spekulanten lassen das Haus räumen, um es dann leer meistbietend zu verkaufen. Gerda Schweickert war bei der Versteigerung dabei. »Nähe Kollwitzplatz«, so priesen die Auktionäre die Lage, »und bis auf drei Parteien komplett entmietet. Sie wissen ja, wie das ist, zwei, drei Renitente gibt’s immer, denen man das Glück erst hinterhertragen muss. Aber darum müssen Sie sich nicht mehr kümmern, das liegt schon in professionellen Händen. Ein einmaliges Renditeobjekt!« – »Hoho, Nähe Kollwitzplatz. Schiebung!«, rief Gerda Schweickert aus dem Publikum und wurde gleich verwarnt. Dabei läuft sie

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