Wanderer im Universum
berührte, unter dem sich die eingezogenen Krallen deutlich abzeichneten. Dann zog sie ihre Tatze zurück und sagte dabei nur: »Langsam und vorsichtig!«
Als die Flasche leergetrunken war, gab Paul sie ihr zurück und sagte unwillkürlich: »Danke ...« Aber bevor er noch etwas hinzufügen konnte, berührte Tigerishka wieder seine Lippen, so daß er nicht weitersprechen konnte.
Paul fragte sich, ob der Knebel vielleicht nur in seiner Einbildung existierte, aber bevor er zu einer Entscheidung darüber gekommen war, wurde er von einer unerklärlichen Müdigkeit erfaßt. Er merkte nur noch, daß die unsichtbare Sonne nicht mehr so hell wie zuvor schien, und spürte undeutlich, daß Tigerishka die Fesseln an seinem linken Arm und am linken Bein löste, so daß er nur noch mit dem rechten Bein an das Deck gefesselt war.
In der letzten wachen Sekunde glaubte er, Tigerishkas Stimme noch einmal zu hören. »Schlaf gut, Affe«, hatte sie gesagt – oder war das nur eine Einbildung gewesen?
26
Der Wanderer zeigte der Erde sein Yin-Yang-Gesicht zum fünftenmal. Jetzt stand er bereits einen ganzen Tag lang am Nachthimmel der Erde. Für die Meteorologen der internationalen Beobachtungsstation am Südpol, die zu diesem Zeitpunkt ihren ununterbrochenen Winter erlebten, hatte der Wanderer in stets gleichbleibender Entfernung vom Horizont einen Vollkreis beschrieben. Jetzt hing er wieder an der Stelle, an der er zuerst erschienen war – über der Queen Maud Range und Marie Byrd Land. Unter seinem Licht schien der Schnee grün und violett zu glühen.
Der seltsame neue Planet förderte überall den Glauben an das Übersinnliche und brachte alle möglichen Verrücktheiten zum Ausbruch.
In Indien, das bisher von großen Erdbeben und hohen Fluten verschont geblieben war, wurde der Wanderer lange Nächte hindurch von großen Massen gläubiger Menschen in feierlichen Zeremonien verehrt. Einige sahen in ihm den unsichtbaren Planeten Ketu, den die Schlange endlich wieder von sich gegeben hatte. Die Brahmanen versenkten sich in die Betrachtung des neuen Planeten und deuteten vorsichtig an, daß er das erste Anzeichen für den Beginn einer neuen Kalpa sein könne.
In Südafrika wirkte der Wanderer wie ein Signal zu einem blutigen Aufstand der Schwarzen gegen die weißen Herrscher des Landes.
In protestantischen Ländern wurde die Offenbarung des Johannes in Tausenden von Bibeln aufmerksam studiert, die zuvor niemals gelesen oder nur aufgeschlagen worden waren.
In Rom gab sich der neue Papst, dessen Hobby die Astronomie war, vergeblich Mühe, abergläubische Spekulationen und Auslegungen zurückzuweisen. Zur gleichen Zeit gaben die Journalisten sich alle Mühe, Filmstars und andere Tagesberühmtheiten mit dem Wanderer als Hintergrund zu interviewen und zu fotografieren – während Ostia gegen die Fluten kämpfte und das Mittelmeer bis weit in die Tibermündung hinein vordrang.
In Ägypten wurde ein Katzenwesen, das mit einer Untertasse landete, von einem ausgewanderten englischen Theosophen als die segenbringende Göttin Bast identifiziert, wodurch die Katzenverehrung in diesem Land neuen Auftrieb erhielt. Nach Meinung des Theosophen war der Wanderer selbst Basts alles vernichtender Zwillingsbruder: Sekhet, das Auge des Ra.
Diese Entwicklung wiederholte sich unter etwas anderen Vorzeichen in Paris, wo zwei Katzenwesen, die Tigerishkas Irrtum nachvollzogen, im Tierpark alle Tiger, Panther, Leoparden, Löwen und andere Katzen freiließen. Einige der Tiere tauchten kurze Zeit später in den Cafés am linken Seine-Ufer auf. Zu einer ähnlichen Befreiung kam es im Berliner Tiergarten, wo die Tiere von Überschwemmungen bedroht waren.
Angesichts dieser Vorfälle muß es seltsam erscheinen, daß Don Merriam in seinem kleinen Raum im Innern des Wanderers friedlich schlief, während Paul Hagbolt an Bord der Untertasse ebenso traumlos in einen tiefen Schlaf versunken war.
Während der Wanderer in unzähligen Fällen Paniken verursachte und dabei Menschen zum Wahnsinn trieb, wirkten sein plötzliches Auftauchen und die damit verbundenen Katastrophen andererseits aber auch gelegentlich als heilsamer Schock. In zahlreichen geschlossenen Anstalten für unheilbar Geisteskranke erholten die Patienten sich wie durch ein Wunder. Als sie sahen, daß das Unwahrscheinliche endlich wahr geworden war, so daß selbst Ärzte und Pfleger davor zitterten, veränderte sich ihre geistige Einstellung entscheidend. Ihre persönlichen Neurosen und
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