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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Festungsmauer gegen Eindringlinge. Mir hatte dieser Wall immer ein sicheres Gefühl gegeben. Unser Haus war nicht nur durch einen Gartenzaun gesichert, sondern war das Herzstück einer echten Bastion mit Wächtern an den Toren. Wie das kleinste, nicht mehr in der Taille zu halbierende Püppchen einer bunt bemalten Babutschka-Schachtelwelt lag ich in meinem Bett. Um mich herum das Kinderzimmer, darum das Haus, darum der Garten mit seinem Zaun und um diesen herum die Psychiatrie mit der Mauer. Die Heimatstadt gehörte schon nicht mehr dazu.
    Noch im Alter von zehn Jahren nannte ich im Ferienlager auf die Frage nach meiner Herkunft nicht den Namen der Stadt, sondern den der Psychiatrie: »Wo wohnst du?« »In Kiel.« »Und du?« »In Lübeck.« »Und du?« »Im Hesterberg.« »Im Hesterberg? Das ist doch eine Irrenanstalt!« »Ich bin da zu Hause und man sagt: Psychiatrie.« »Und wie heißt du?« »Jocki.« »Jocki? Hier steht Joachim!« »Nein, so will ich nicht heißen. Alle nennen mich Jocki.« »Also Jocki vom Hesterberg?« »Ja, ganz genau«, sagte ich.
    Wenn jenseits der Mauer nichts außer Wiesen und Feldern gewesen wären, man sozusagen direkt durch die Anstaltstore in die freie Landschaft hinausgetreten wäre, es hätte mich nicht gewundert. Mein Vater war der Direktor dieses Anstaltskosmos, und ohne groß darüber nachzudenken ging ich fest davon aus, dass er nicht nur der Leiter der gesamten Psychiatrie war, sondern dass sie ihm voll und ganz gehörte. Er war Arzt und König in einer Person, und wenn ich mit Freunden über das Gelände ging oder auf dem Spielplatz von Haus D spielte, war ich sicher, dass dies auch mein Spielplatz ist. Wie ein Infant flanierte ich über die Straßen, schaute mal hier und mal dort herein, bekam in der Gärtnerei einen vorzeitig erblühten Weihnachtsstern geschenkt, probierte in der Großküche aus einem riesigen Topf ein wenig heißen Schokoladenpudding oder durfte im Heizwerk ein Brikett in den lodernden Ofen schleudern.
    Dabei war die norddeutsche Kleinstadt vor den Toren der Anstalt eine sehens-, ja sogar besuchenswerte. Schleswig hat einen Dom mit einem nicht sonderlich alten, etwas zu kantig geratenen Turm und im Inneren den – so wurde immer behauptet, so wurde es einem schon in der Grundschule eingebläut – weltberühmten Brüggemann- oder auch Bordesholmer Altar. Wenn ich später in anderen Städten, um meine Heimatstadt näher zu beschreiben, den Namen dieses Altars erwähnte, hatte noch nie jemand von ihm gehört. Leider kann man nicht nah genug an ihn herantreten. Unmöglich, die auf Postkarten vergrößerten und markant geschnitzten Figuren im dunklen Getümmel des Originals zu erkennen.
    Der Dom liegt einige Meter tiefer als die ihn umstehenden Häuser, da man im Mittelalter auf dem geweihten Grund weder Abfälle noch Fäkalien zurücklassen durfte. Im Lauf der Jahrhunderte wohnten sich die Kleinstadtbewohner um den Dom herum auf ihrem Dreck gute drei Meter in die Höhe. Wie eingesunken liegt er nun im ältesten Teil der Stadt in einer tiefen Mulde. Rein rechnerisch würden sich die Schleswiger in fünfzehntausend Jahren auf ihrem Unrat bis zur Kirchturmspitze hinaufgemüllt haben.
    Eine andere Attraktion: Schloss Gottorf. Ein von einem Wassergraben umschlossener, eindrucksvoller Bau mit einer sehenswerten expressionistischen Gemäldesammlung. Wenn wir ausnahmsweise mal Besuch bekamen, fuhren wir entweder stundenlang ins Noldemuseum nach Seebüll oder mussten in die expressionistische Sammlung Schloss Gottorfs. Dort liegen in Glaskästen aufgebahrt auch die berühmten Moorleichen aus dem nahe gelegenen Haithabu, einer der größten Wikingersiedlungen, die es je gab. Jeder in meiner Heimatstadt kennt diese schwarzledernen Mumien mit den verbundenen Augen, den teilweise noch geflochtenen, feuerroten Haaren, den Spangen und durchlöcherten Sackumhängen.
    Auf der Suche nach ihren Wurzeln und um dem strukturschwachen Norden etwas Gutes zu tun, sind sich die Bewohner meiner Heimatstadt im Laufe der Zeit ihrer Wikingerherkunft immer bewusster geworden. Man könnte sogar so weit gehen, zu behaupten, dass viele Schleswiger nie so recht wussten, wohin mit sich, und erst durch die Freilegung ihrer Wikingerseele zu sich selbst gefunden haben.
    Seit vielen Jahren finden aus diesem Grund die sogenannten Wikingertage statt. Und für eine Woche im Jahr zeigen sich die Einwohner Tausenden von Besuchern, unter ihnen auch viele Dänen, von ihrer verschütteten Seite. Da kann man

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