Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
dann Optiker in Fellen sehen, Lehrer, die aus selbst gezimmerten, untergehenden Wikingerschiffen gerettet werden müssen, Schuhverkäuferinnen, die mit großen gebogenen Nadeln Lederlappen zu unförmigen Stiefeln vernähen, oder auch Restaurantbesitzer, die mit behörnten Helmen in historisch nachgebauten Öfen Gerichte schmoren und zähe Fladen backen. Für die durch und durch vom Wikinger-Brauchtum Durchdrungenen gibt es sogar die Möglichkeit, für die gesamte Zeit der Festivitäten in eine an historischer Stätte, am Haddebyer Noor, errichtete Siedlung zu ziehen.
Obwohl laut Werbung das Hauptanliegen der Wikingertage der Versuch ist, den Wikinger von seinem schlechten Image als Grobian zu befreien und die Wikingerkultur als eine Hochkultur zu rehabilitieren, endet jeder einzelne der Wikingertage mit einem schrecklichen Besäufnis. Völlig mit sich und ihrer Wikingervergangenheit im Einklang, betrinkt sich die halbe Stadt in Lederzelten mit Met, dem hochprozentigen Wikingerbier, und die Krankenwagen fahren bis in die Morgenstunden bewusstlose Männer und Frauen in Fellen ins Krankenhaus.
Der Gipfel der Wikingerbegeisterung schlug sich in einem aberwitzig hässlichen Bauwerk nieder. An einem der idyllischsten Plätze der Stadt, direkt am Wasser gelegen, wurde der sogenannte Wikingturm gebaut. Wohl selten hat eine Kleinstadt ihren Aufbruch in die architektonische Moderne so gnadenlos vergeigt wie meine Heimatstadt. Jahrelang konnten keine Eigentümer für die kuchenstückförmigen Wohnungen gefunden werden. Es gab Gerüchte, dass sich dort Prostituierte einquartiert hätten, die einzig die herrliche Aussicht über das Ausbleiben der knausrigen Kundschaft hinwegtröstete.
Schleswig liegt an der Schlei, dem längsten Süßwasserarm Deutschlands. Bis zum Meer sind es fast vierzig Kilometer. Direkt am Ufer, im ältesten Teil der Stadt, kann man auch heute noch den Holm besuchen, eine wunderschöne Fischersiedlung mit geduckten Häusern und Hochstammrosen davor. Hier lebte, einer uralten Tradition folgend, der Möwenkönig. Er war der Einzige, der die Möweninsel betreten durfte. Auf dieser winzigen Insel inmitten der Schlei brüten Abertausende Lachmöwen. Und nur er, der Möwenkönig, durfte zur Möweninsel übersetzen, Möweneier einsammeln und verkaufen. Für seine Möweneier war Schleswig berühmt. Man musste sie lange kochen, damit die Salmonellen absterben, und da sich die Möwen hauptsächlich von den Abfällen der nahe gelegenen Böklunder-Würstchenfabrik ernährten, schmeckten die Eier immer öfter ekelerregend nach Fleisch und wurden schließlich verboten.
Doch Schleswig hatte eben auch noch eine andere Seite, ein zweites Gesicht: Neben dem Hesterberg, der riesigen Kinder- und Jugendpsychiatrie, gab es noch Stadtfeld, die Erwachsenenpsychiatrie. Auch hier lebten weitere zweitausend geistig oder körperlich behinderte Menschen. Dann gab es noch den Pauli-Hof, Schleswig-Holsteins größte Jugendstrafanstalt, zwei riesige Einrichtungen für Gehörlose, eine legendäre Gehörlosendisco, wo die Schallwellen durch den Boden bummerten, eine sechsstöckige Blindenschule ohne Fenster, das städtische Krankenhaus und unzählige Therapie- und Rehabilitationszentren. Bei nur fünfundzwanzigtausend Einwohnern war das eine Menge. Irgendwie hatte fast jeder in dieser Stadt mit Menschen zu tun, die irgendwie anders waren, der Hilfe bedurften. Im Laufe der Jahre hatte sich wie Trabanten um Schleswig herum eine Vielzahl von Privatanstalten angesiedelt. Sie bekamen ihre Patienten von den beiden großen Psychiatrien der Stadt. Egal aus welcher Richtung man nach Schleswig hineinfuhr, überall sah man am Straßenrand auf Bänken wippende oder einfach in die Landschaft hineingestellte Patienten, die einem zuwinkten. Die große Selbstverständlichkeit im Umgang der Schleswiger mit all diesen sehr speziellen Menschen war erstaunlich. Einmal sah ich, wie sich zwei Patienten mitten in der Fußgängerzone auszogen, zu tanzen begannen und einen Schlager sangen. Die Schleswiger grinsten bloß und riefen »Kommt, zieht euch mal wieder an. Ist gut jetzt.«
Das Geburtstagsfrühstück
An seinem vierzigsten Geburtstag sagte mein Vater zu uns, meiner Mutter, meinen beiden Brüdern und mir beim Geburtstagsfrühstück, zu dem es verschiedene Räucherfische gab – Makrele, Schillerlocken, fetten Aal und die von meinem Vater sehr geschätzten Kieler Sprotten, die er ganz, mit Kopf aß, sodass man die Wirbelsäulen knacken hörte, umso
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