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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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bedrückt. »Am Morgen! Ich habe mir vorgenommen, sechzehn Kilo abzunehmen. Dann würde ich neunzig Kilo wiegen. Das hab ich zuletzt gewogen, als ich zwanzig war. Bis zur Einweihung der Klinik könnte ich vielleicht die Hälfte davon schaffen. Ein Kilo pro Woche macht acht Kilo, bis der Ministerpräsident vorfährt. Aber genau wie bei den Zigaretten werde ich nur eine kurze Essenspause einlegen und ab meinem achtzigsten Lebensjahr wieder alles fressen, was mir zwischen die Finger kommt.« Er blähte die Wangen auf, spielte einen noch dickeren Mann, als er ohnehin war, steckte sich drei Zigaretten zwischen die Finger und tat so, als hätte er den Mund mit Essen vollgestopft. Mampfend sagte er: »So stell ich mir meinen Lebensabend vor: als Kette rauchender Fleischklops!«
    Meine Brüder und ich sahen amüsiert zu. Meine Mutter schaute eher skeptisch. »Aber so geht das nicht mehr weiter«, fuhr er fort, »ich muss im Sitzen pinkeln. Ich komme kaum noch aus der Badewanne raus. Ich habe einen Hängebusen bekommen.« Er fasste sich mit beiden Händen an die Brust und quetschte die sich deutlich unter dem Hemd abzeichnenden Wölbungen zusammen. »Und wenn ich meine Unterhosen auf der Wäscheleine sehe, schäme ich mich, weil sie aussehen wie von jemandem, der im Zirkus auftritt.«
    Diesen Vergleich begriff ich nicht ganz. Zirkus klang doch gut. Gegen einen Vater, der im Zirkus auftrat, hätte ich absolut nichts einzuwenden gehabt.
    »Und wisst ihr, was mir neulich während eines Vortrags passiert ist? Ich stehe vor zweihundert Leuten und rede über ein furchtbar ernstes Thema und plötzlich springt mir ein Knopf vom Hemd. Platzt einfach ab und saust durch die Luft bis in die dritte Reihe der Zuhörer. Alle haben es gesehen und alle haben so getan, als ob nichts wäre. Ich habe am Bauch einen kühlen Luftzug gespürt, mich aber nicht getraut hinzusehen. Ich hab ganz flach geatmet, weil ich Angst hatte, meine dicke Wampe würde auch noch die restlichen Knöpfe in den Saal schießen und dann hätte ich bauchfrei da gestanden. Das war schlimm.«
    Mein Mutter fragte: »Was war denn das Thema?« »Suizid im Kindesalter. Wirklich, ich muss dünner werden!« Mein mittlerer Bruder sagte: »Da würde ich mal versuchen, nur drei Mahlzeiten pro Tag zu essen!« »Ja«, gab ihm mein Vater recht: »Da stimme ich dir zu. Das scheint mir ein erwägenswerter erster Schritt in die richtige, die abspeckende Richtung zu sein. Ab heute nur noch drei Mahlzeiten!« Die vierte Malzeit, die mein Bruder meinte, war gegen den sogenannten »Nachthunger«. Jede Nacht, zwischen drei und vier Uhr morgens, wachte mein Vater auf, von Hungerkrämpfen geplagt, wie er sagte. Wachte auf und ging in die Küche. Er kochte auch nachts. Machte sich Spiegeleier mit Speck oder eine ganze Schüssel heißen Vanillepudding. Der Anblick des vor der offenen Tür des Kühlschranks wie vor einem anzubetenden Heiligtum knienden, vom Lämpchen erleuchteten Vaters war einer der mir vertrautesten überhaupt. Ständig hockte er illuminiert vor dem Kühlschrank und fraß Wurst oder Käse.
    Mein ältester Bruder sagte zu ihm: »Das hilft überhaupt nichts, wenn du nur nachts nichts mehr isst. Du darfst auch am Tag nicht so viel fressen. Schoggi und Kokosflocken, alles schon wieder ratzeputz weg.« Er deutete hinter sich auf den Küchenschrank. Ganz oben in einer Schale lagen unsere Süßigkeiten. Den Platz hatte mein Vater gewählt. Durch diese simulierte Unerreichbarkeit hoffte er, seinen Süßigkeitenkonsum zu drosseln. Vergeblich. Auf den Zehenspitzen, seinen dicken Bauch gegen den Schrank gedrückt, die Hemdknöpfe schrammten über das Holz, fischte er mit der Hand in der Schale herum.
    »Und vor allem«, mein Bruder zögerte, da er sicher war, das heikelste aller Themen zu berühren, »du musst dich mehr bewegen.« »Ja«, sagte mein Vater, zu unserer aller Überraschung, ganz gelassen, »auch damit hast du vollkommen recht. Ich hab mit dem Stethoskop versucht, mich selbst abzuhören. Ich hab mein Herz nicht gefunden. Das arme Ding! Lebendig begraben unter Tonnen von Fett. Liegt da irgendwo in mir in der Finsternis, ein verschüttetes Lawinenopfer, und wartet auf Rettung. Vielleicht bin ich ja schon tot. Ein Fettfriedhof. Lacht jetzt bitte nicht, aber genau aus diesem Grund werde ich mit dem Laufen anfangen.«
    Meine Mutter sah ihn fragend an: »Da hast du dir aber einiges vorgenommen: Nichtraucher, Diät und Sport. Mach doch erst mal eine Sache.« »Nein!« Mein Vater

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