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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Gabriel
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Erkenntnis eines Dinges an sich (oder einer Tatsache an sich) ist. Eine wahre Erkenntnis ist keine Halluzination oder Illusion, sondern eine Erscheinung der Sache selbst.
    Aber, wird man vielleicht einwenden wollen, ist denn nicht die Form des Sehens oder die Form des Schmeckens nur eine Art Projektion oder zumindest ein Filter, durch den uns die Dinge an sich prinzipiell verzerrt erscheinen? Nehmen wir an, wir sehen, wie der Apfel in der Obstschale liegt. Wir unterscheiden ihn von der Schale durch ihre jeweilige räumliche Position. Woher wissen wir aber, dass der Apfel wirklich von der Obstschale unterschieden ist? Wäre vielleicht dieser Unterschied, der ohne räumliche Differenzierung nicht erkennbar wäre, gar nicht da, wenn wir nicht räumlich differenzieren würden? Genau so hat Kant die Sache gesehen, weshalb er zu der absurden Konsequenz gekommen ist, dass die Dinge an sich nicht einmal in Raum und Zeit sind. Es sieht plötzlich so aus, als ob der Mond nur deswegen von der Erde unterschieden ist, weil wir dies so sehen!
    Wir haben also sagen wollen: daß alle unsre Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei; daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können. 50
    An dieser Textstelle ist vieles sehr fragwürdig. Was soll es überhaupt heißen, dass Raum und Zeit »nur in uns existieren können«? Ist »in uns« etwa keine Ortsangabe und damit räumlich? Ist »uns« etwa nicht zeitlich und meint eben uns, die wir gestern, heute und hoffentlich auch noch morgen existieren?
Subjektive Wahrheiten
    Der Konstruktivismus ist absurd, er wird meist aber nicht durchschaut. Denn wir haben uns daran gewöhnt zu akzeptieren, dass alles um uns herum ein irgendwie kulturelles Konstrukt sein soll und dass allenfalls noch die Naturwissenschaften die Dinge an sich beschreiben. Was die sogenannten Geisteswissenschaften freilich in eine schwierige Position bringt. Denn wenn sie es im Gegenzug nur noch mit kulturellen Konstrukten zu tun haben, verschwindet der Unterschied von wahr und falsch, und die Interpretation eines Gedichtes oder eines historischen Tatbestandes wird zu einer beliebigen Halluzination. Der Wahlspruch des fröhlichen Konstruktivisten lautet: Jedem sein eigener Faust oder seine eigene Novemberrevolution! Es ist eben alles eine Frage der Wahrnehmung.
    In seiner schon erwähnten Schrift Das Buch der Welt schreiben hat Ted Sider eine ziemlich zutreffende Diagnose vorgeschlagen, die den Neuen Realismus mit einem Schuss Konstruktivismus vereinbar macht. Zu diesem Zweck können wir Siders Lieblingsbeispiel ein wenig modifizieren. Beginnen wir mit einer extrem vereinfachten Welt, die aus genau zwei präzise abgegrenzten Hälften besteht, deren eine schwarz und deren andere weiß ist.
    Abbildung 6 Die Sider-Welt
    In dieser Welt, die ich die »Sider-Welt« (Abbildung 6) nenne, gibt es wenige Tatsachen: die Tatsache, dass es zwei Hälften gibt, deren eine schwarz und deren andere weiß ist, sowie die Tatsache ihrer jeweiligen Größe. Sider nennt nun jeden Ausdruck, der eine Tatsache der Welt beschreibt, einen Ausdruck, der »an ihren Fugen entlangfährt«. Wählen wir die Aussagen:
    In der Sider-Welt gibt es zwei Hälften.
    und
    Die linke Hälfte ist schwarz, und die
rechte Hälfte ist weiß.
    Beide Aussagen treffen Unterschiede entlang der Fugen der Sider-Welt. Nun können wir aber auch eine diagonale Sprache erfinden. Für diese Diagonalsprache kann man sich an Prädikaten orientieren, die der amerikanische Philosoph Nelson Goodman in die Diskussion eingeführt hat. 51 Als Beispiel nehmen wir:
    Dieses Rechteck ist schweiß, das heißt sowohl
weiß als auch schwarz.
    Diese und ähnliche Prädikate nenne ich deswegen D iagonalprädikate , weil sie diagonal über die Sider-Welt verlaufen: Stellen wir uns vor, wir schneiden ein diagonales Rechteck aus der Sider-Welt aus, das teilweise auf der weißen und teilweise auf der schwarzen Hälfte liegt (Abbildung 7).
    Abbildung 7
    Das ausgeschnittene Rechteck kann man in der Diagonalsprache als »schweiß« bezeichnen, weil jeder

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