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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Gabriel
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Tatsachen gibt. Damit wäre dem Konstruktivismus noch kein sehr großes Terrain streitig gemacht. Denn es könnte schließlich sein, dass wir nur eine einzige Tatsache, nur ein einziges Ding an sich erkennen können – was in der Tat sehr wenig wäre. Sollte sich alles andere als eine Konstruktion herausstellen, hätte der Konstruktivismus fast schon gewonnen.
    Um zu sehen, dass dies nicht der Fall ist, und um zu beweisen, dass wir notwendigerweise sehr viele Tatsachen genau so erkennen, wie sie an sich sind, müssen wir noch einmal auf das derzeit wohl beliebteste Argument für den Konstruktivismus eingehen. Dabei werden wir sehen, dass dieses Argument leicht mit dem Neuen Realismus vereinbar ist und genau besehen überhaupt nicht für den Konstruktivismus spricht. Das Hauptargument für den Konstruktivismus leistet also nicht, was es leisten soll.
    Das Argument beruft sich auf die menschliche Sinnesphysiologie und ist in verschiedenen Versionen bereits seit der griechischen Antike verbreitet. 49 Der Unterschied zwischen den antiken und gegenwärtigen Versionen liegt lediglich darin, dass wir heute erheblich mehr über die menschliche Sinnesphysiologie wissen (was allerdings nicht entscheidend ist). Das Argument beginnt mit der Feststellung einer offensichtlichen Tatsache: Alles, was wir über die physische Umgebung unseres Körpers wissen, wissen wir, indem wir Informationen verarbeiten, die durch Reizung unserer Nervenenden entstehen. Die Welt, die wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen, ist eben immer die gesehene, gehörte, gerochene, geschmeckte und gefühlte Welt, will sagen: die Welt, wie wir sie registrieren. Meist wird das daraus angeblich folgende Problem am Sehsinn illustriert, der für Menschen besonders wichtig ist. Stellen wir uns nun vor, wir sehen einen Apfel in der Obstschale. In diesem Fall treffen sogenannte Photonen, also elektromagnetische Strahlen, auf unsere Augen. Diese Strahlung wird in elektrische Impulse übersetzt, die irgendwo in unserem Gehirn ein visuelles Bild erzeugen. Obwohl unter unserer Schädeldecke alles völlig dunkel ist, produzieren die elektrischen Impulse Reize, die wir im visuellen Kortex als Bild wahrnehmen. Solche Bilder nennen Philosophen »mentale Repräsentationen«. Was wir eigentlich sehen, soll deswegen auch nicht der Apfel in der Obstschale, sondern eine mentale Repräsentation sein. Diese Position bezeichnet man entsprechend als mentalen R epräsentationalismus . Wir sehen demnach eigentlich keinen Apfel in einer Obstschale, sondern sitzen im Dunkel unserer Schädeldecke, wo durch elektrische Impulse ein Weltfilm oder ein Welttheater entsteht, das wir uns ansehen. Dieser Weltfilm hilft uns dabei, uns in der Außenwelt zu orientieren, die in Wahrheit nur aus farblosen Elementarteilchen und aus demjenigen besteht, was sich auf einer höheren makroskopischen Ebene aus ihnen zusammensetzt. Wenn wir sozusagen mit »Gottes Augen« auf die Dinge an sich blicken könnten, sähe die Lage ziemlich erschreckend aus. Wir sähen etwa lediglich zitternde Elementarteilchen, wo wir zuvor einen Apfel wahrnahmen. Doch damit nicht genug, wir sähen weder einen Apfel noch unseren Leib mit seiner Schädeldecke. Insbesondere könnten wir auch die mentale Repräsentation, das visuelle Bild, nicht mehr erkennen. Dieses Bild soll deswegen genauso wie ein Geruchsbild, ein Tonbild, das Elektrobild eines Elefantenrüsselfisches oder das Sonarbild eines Delphins eine Art Illusion sein, die unsere Gehirne oder vielmehr die fundamentalen Elementarteilchen erzeugen. Denn unsere Gehirne sind ja ebenfalls nur Elemente in unserem Film.
    Doch woher wissen wir überhaupt, dass wir Gehirne haben? Woher wissen wir, wie die menschliche Sinnesphysiologie funktioniert? Unser einziger Zugang zu unseren Gehirnen und zu unserer Sinnesphysiologie ist durch unsere Sinne. Wenn wir nur etwas über die Außenwelt wissen können, indem wir sie durch unsere fünf Sinne (in irgendeiner Kombination) wahrnehmen, dann gilt dies auch für unsere Sinnesphysiologie und für unser Gehirn. Denn wir sehen unser Gehirn ja immer nur in einem Spiegel oder mittels einer komplizierten technischen Registratur, niemals aber, indem wir uns hinter unsere Schädeldecke zurückziehen, um dann festzustellen, dass sich dort im Dunkel ein Gehirn befindet. Wenn alle Elemente, die auf unserem Bewusstseinsschirm auftauchen, Illusionen sind, dann ist auch das Gehirn und mit ihm das Bewusstsein nur eine Illusion. Wenn die Welt

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