Warum es die Welt nicht gibt
übrigens auch im Alltagsleben so, dass wir den Realismus der Vernunft schon voraussetzen. Versetzen wir uns zur Illustration wiederum in eine ganz gewöhnliche Situation. Es ist Mittagspause, und wir fragen uns, was wir heute in der Kantine essen möchten. Um diese Frage zu beantworten, wägen wir verschiedene Möglichkeiten ab und stellen die folgende Überlegung an: Da ich gestern Abend schon Fisch gegessen habe und der Kantinenfisch meist nur ein ungesunder Backfischlappen ist, sollte ich heute lieber die Salatbar wählen, zumal auch die Bratwurst nicht zu empfehlen ist. Also stelle ich mir einen Salatteller zusammen, indem ich aus demjenigen, was ich vorfinde, etwas auswähle. Dabei treffe ich zufällig die Kolleginnen Soundso von der Abteilung Soundso, erhalte zwischendurch einen Telefonanruf auf meinem Handy und denke schon an den kommenden Feierabend. All dies sind Tatsachen im Sinnfeld Mittagspause, und jede einzelne dabei erworbene Erkenntnis ist die Erkenntnis von Dingen oder Tatsachen an sich. Niemand meint in einer solchen Lage ernsthaft, dass die Elementarteilchen objektiver, wirklicher oder tatsächlicher seien als die Gedanken, die wir uns machen, oder die Farben der Salatbar. Die Privilegierung bestimmter Tatsachen im Namen des Realismus ist folglich unbegründet und verfehlt. Der Neue Realismus insistiert deswegen auf einer vorurteilsfreien Untersuchung dessen, was es gibt. Wir sollten uns nicht von irgendeinem überlieferten, sei es antiken oder frühneuzeitlichen, Weltbild darauf festlegen lassen, nur dasjenige für »wirklich« oder »existent« zu halten, was angebliche Autoritäten wie die »Religion« oder die »Wissenschaft« approbiert haben. Nicht nur ist vieles wahr, was sich naturwissenschaftlich nicht untersuchen lässt. Darüber hinaus gibt es auch in den Naturwissenschaften mehr oder weniger phantasievolle Diagonalprädikate, die durch wissenschaftlichen Fortschritt beseitigt werden. Sigmund Freud bringt dies in seinem ebenso amüsanten wie tiefschürfenden Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten mit einem Witz zum Ausdruck, den er Georg Christoph Lichtenberg zuschreibt. Hamlet sagt an einer berühmten Stelle: »Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt« – eine klassische Kritik des wissenschaftlichen Weltbildes. Dem sei allerdings noch hinzuzufügen: »Aber es gibt auch vieles in der Schulweisheit, das sich weder im Himmel noch auf Erden findet.« 54
Wissenschaft und Kunst
Das wissenschaftliche Weltbild setzt ein bestimmtes Menschenbild voraus. Nach diesem Menschenbild ist der idealisierte Wissenschaftler ein durch und durch rationales Wesen. Die Erkenntnisproduktion läuft idealtypisch etwa folgendermaßen ab: Der Wissenschaftler steht einem unbekannten Phänomen gegenüber, etwa einer Krankheit, und formuliert eine Hypothese. Diese Hypothese begründet oder verwirft er anschließend durch ein methodisch kontrolliertes Verfahren, bei dem jeder einzelne Schritt wiederholbar und von anderen Wissenschaftlern nachvollziehbar ist. Urvater dieser Methode ist Descartes, der empfahl, wir sollten einmal in unserem Leben alles bezweifeln und von dort aus neue, rein rational begründete Wissensfundamente legen. Anschließend solle man sich in einem idealisierten wissenschaftlichen Verfahren durch völlig neutrale Hypothesenbildung dann ein Weltbild erschließen.
Wenn man auf diese Weise an die Wissenschaft und die menschliche Rationalität herangeht, erscheint jede unserer Überzeugungen als wissenschaftlich zu prüfende Hypothese. Allerdings sind die meisten unserer Überzeugungen überhaupt nicht von dieser Art. Wenn wir etwa ein Date haben und überzeugt sind, dass unser Gegenüber sich langsam in uns verliebt, formulieren wir keine wissenschaftliche Hypothese und überprüfen dann methodisch, ob dies der Fall ist (nun, vielleicht schon, aber vermutlich nur ein Mal). Dasselbe gilt für politische oder ästhetische Entscheidungen und Überzeugungen. Das schreckt die heutigen Forschergenerationen freilich nicht ab, genau dies zu versuchen.
In diesem Sinn werden heutzutage sogar neuronale Prozesse bei der Interpretation von Kunstwerken untersucht, um festzustellen, worin ein gutes Kunstwerk eigentlich besteht. Manche Forscher meinen, dass der Sinn eines Kunstwerkes darin zu suchen sei, dass wir es schön finden – und dass wir ein Kunstwerk schön finden, weil es bestimmte Nervenreize im Betrachter oder Zuhörer auslöst. Demnach
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