Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
Hauptfach zu entscheiden – sie haben Angst, sich festzulegen, weil sie sich vor dem Scheitern fürchten.« 65
Diese Forschungen widerlegen auch die traditionelle amerikanische Haltung, dass Eltern das Scheitern ihrer Kinder durch positives Feedback abmildern sollten. Besser ist es, sanft nachzuhaken, was schiefgelaufen ist, und den Kindern das Selbstbewusstsein und das Werkzeug an die Hand zu geben, mit dem sie es beim nächsten Mal besser machen können. Französische Lehrer mögen ein wenig streng sein, vor allem in der Oberschule. Aber genau das haben Beans Erzieher berücksichtigt.
Sie wissen, dass Lob in Maßen einem Kind guttut. Übertreibt man es jedoch, hindert man es daran, auf eigenen Füßen zu stehen.
In den Weihnachtsferien nehme ich Bean mit in die Vereinigten Staaten. Bei einem Familientreffen führt sie ein Ein-Kind-Stück auf, in dem sie die Lehrerin spielt und den Erwachsenen Befehle erteilt. Das ist süß, aber ehrlich gesagt nicht besonders genial. Und trotzdem verstummt nach und nach jeder Erwachsene im Raum und sagt, wie hinreißend Bean sei. (Sie ist so schlau, französische Sätze und Lieder mit einzuflechten, weil sie ganz genau weiß, dass das garantiert Eindruck macht.)
Als sie fertig ist, strahlt Bean und saugt das viele Lob auf wie ein Schwamm. Ich glaube, es ist der Höhepunkt ihres Amerikabesuchs. Ich strahle ebenfalls und interpretiere das Lob für sie als Lob für mich, nach dem ich in Frankreich so lange vergeblich gehungert habe. Während des gesamten Abendessens sagen alle in unserer Hörweite, wie toll die Aufführung war.
Im Urlaub ist so etwas fantastisch. Aber ich weiß nicht, ob ich möchte, dass Bean immer so viel unverdientes Lob bekommt. Es fühlt sich gut an, scheint aber mit unangenehmen Begleiterscheinungen einherzugehen, zum Beispiel damit, dass die Kinder einen ständig unterbrechen, weil sie sich für so furchtbar wichtig halten. Zu viel Lob könnte auch Beans Urteilsvermögen schmälern, sodass sie irgendwann gar nicht mehr weiß, was wirklich gut und unterhaltsam ist und was nicht.
Ich habe also mein Lob etwas zurückgefahren. Aber es fällt mir schwer, das in meinen Augen übertriebene französische Selbstständigkeitscredo zu akzeptieren. Natürlich weiß ich, dass meine Kinder ein eigenes Leben haben und dass ich sie nicht ständig vor Ablehnung und Enttäuschungen bewahren kann. Aber die Vorstellung, dass jedes meiner Kinder jetzt schon sein eigenes Leben leben muss, ist auf meiner emotionalen Landkarte einfach nicht verzeichnet. Vielleicht deckt sie sich nur nicht mit meinen eigenen emotionalen Bedürfnissen.
Trotzdem muss ich zugeben, dass meine Kinder am glücklichsten wirken, wenn ich darauf vertraue, dass sie alleine klarkommen. Ich gebe ihnen keine Messer in die Hand und fordere sie auf, eine Wassermelone mit Schnitzereien zu verzieren. Sie wissen in der Regel selbst, wann etwas ihre Fähigkeiten übersteigt. Aber ich lasse zu, dass sie sich ein bisschen anstrengen, und sei es nur, dass sie einen zerbrechlichen Teller zum Esstisch tragen. Nach diesen kleinen Erfolgserlebnissen sind sie gelassener und glücklicher. Dolto hat absolut Recht, wenn sie sagt, dass Selbstständigkeit eines der wichtigsten Grundbedürfnisse von Kindern ist.
Sie mag auch Recht damit haben, dass mit sechs Jahren eine gewisse Schwelle erreicht ist. Eines Nachts habe ich Grippe und halte Simon mit meinem Husten wach. Mitten in der Nacht ziehe ich auf das unbequeme Sofa um. Als die Kinder gegen halb acht ins Wohnzimmer kommen, kann ich mich kaum bewegen. Ich beginne deshalb auch nicht wie sonst damit, das Frühstück zu machen.
Also übernimmt das Bean. Ich liege nach wie vor mit meiner Schlafmaske auf dem Sofa. Im Hintergrund kann ich hören, wie sie die Schubladen aufzieht, den Tisch deckt und Milch und Frühstücksflocken aus den Schränken holt. Sie ist fünfeinhalb Jahre alt und hat meine Aufgaben übernommen. Sie hat sogar ein paar davon an Joey delegiert, der für Besteck sorgt.
Nach ein paar Minuten kommt Bean zu mir aufs Sofa. »Frühstück ist fertig, aber den Kaffee musst du machen!«, sagt sie. Sie ist völlig ruhig und zufrieden. Ich staune, wie glücklich – oder genauer gesagt sage – es sie macht, unabhängig zu sein. Ich habe sie weder gelobt noch sonst irgendwie ermutigt. Sie hat erfolgreich etwas Neues ausprobiert, und ich wurde Zeuge davon, was ihr ein sehr gutes Gefühl gibt.
Dolto meint, ich müsse meinen Kindern vertrauen. Indem ich ihnen vertraue
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