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Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Titel: Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Druckerman
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In Amerika würde eine ähnliche Verletzung sofort eine offizielle Befragung, Anrufe zu Hause und längere Erklärungen nach sich ziehen.
    Französische Eltern finden solche Vorfälle ärgerlich, sehen aber auch keine Tragödie darin. »Wir Franzosen mögen es, wenn Kinder ein bisschen raufen«, erzählt mir die Journalistin und Autorin Audrey Goutard. »Das ist Teil unserer französisch-mediterranen Kultur. Es gefällt uns, dass unsere Kinder ihr Revier verteidigen und sich gegen andere behaupten … Eine gewisse Gewalt unter Kindern finden wir nicht weiter beunruhigend.«
    Beans Weigerung, mir zu sagen, woher sie die Schramme hat, ist vermutlich auch ein Ausdruck des Selbstständigkeits-Gedankens. Jemanden zu verpetzen – rapporter contre auf Französisch – wird nicht gern gesehen. Angeblich liegt das an der schrecklichen Erfahrung des todbringenden Denunzierens von Nachbarn während des Zweiten Weltkriegs. Auf der jährlichen Versammlung der Wohnungseigentümer, von denen viele den Krieg noch miterlebt haben, frage ich, wer unseren Kinderwagen im Treppenhaus umgeworfen hat.
    »Wir denunzieren niemanden«, sagt eine ältere Dame. Alle lachen.
    Amerikaner mögen Petzen ebenfalls nicht. Aber in Frankreich gilt es sogar unter Kindern als erstrebenswert, ein paar Schrammen einzustecken und den Mund zu halten. Sogar vor Familienangehörigen darf man Geheimnisse haben.
    »Ich kann Geheimnisse mit meinem Sohn teilen, die er seiner Mutter nicht erzählen darf«, so Marc, der französische Golfer. Ich sehe einen französischen Film, in dem ein wohlhabender Betriebswirt seine Teenager-Tochter von einem französischen Polizeirevier abholt, auf das sie wegen Ladendiebstahls und Marihuanabesitzes gebracht worden ist. Auf der Heimfahrt verteidigt sie sich, indem sie sagt, sie habe wenigstens ihre Freundin nicht verraten, die mit von der Partie war.
    Diese Kultur des Schweigens führt zu einer großen Solidarität unter den Kindern. Sie lernen, sich aufeinander und auf sich selbst zu verlassen, statt Eltern, Erzieher oder Lehrer um Hilfe zu bitten. Die Wahrheit um jeden Preis – diese Maxime gilt hier nicht. Marc und seine amerikanische Frau Robynne erzählen mir von einem aktuellen Vorfall, bei dem ihr mittlerweile zehnjähriger Sohn Adrien Zeuge wurde, wie ein Mitschüler Knallkörper gezündet hat. Es gab eine groß angelegte Befragung. Robynne drängte Adrien, der Schulleitung zu sagen, was er gesehen hatte. Marc riet ihm, die Beliebtheit des anderen Jungen zu berücksichtigen und zu überlegen, ob dieser Adrien zusammenschlagen könne.
    »Du musst das Risiko kalkulieren«, so Marc. »Wenn es für dich besser ist, nichts zu tun, solltest du nichts tun. Ich will, dass mein Sohn eine Situation einschätzen kann.«
    Dass Kinder hier dazu angehalten werden, ihre eigenen Erfahrungen zu machen, merke ich auch, als ich unsere Wohnung renoviere. Wie alle amerikanischen Eltern aus meinem Bekanntenkreis möchte ich unbedingt, dass sie absolut kindersicher ist. Ich entscheide mich für einen Gummifußboden im Kinderbad, damit niemand auf nassen Fliesen ausrutschen kann. Ich bestehe auch darauf, dass jedes Elektrogerät kindersicher und die Ofentür so gebaut ist, dass sie nicht heiß werden kann.
    Régis, mein Bauunternehmer, ein derber, spitzbübischer Typ aus dem Burgund, hält mich für verrückt. Seiner Meinung nach wird ein Ofen dadurch »kindersicher«, dass das Kind ihn genau ein Mal anfasst und lernt, dass er heiß ist. Régis weigert sich, einen Gummifußboden im Bad zu verlegen, da das furchtbar aussehe. Ich gebe nach, aber erst, als er den Wiederverkaufswert der Wohnung erwähnt. Beim Ofen bleibe ich hart.
    An dem Tag, als ich Beans Klasse in der maternelle eine englische Geschichte vorlese, gibt die Lehrerin vorher kurz Englischunterricht. Sie zeigt auf einen Füller und bittet die Kinder, auf Englisch zu sagen, welche Farbe er hat. Als Antwort erzählt ein Vierjähriger irgendetwas über seine Schuhe.
    »Das hat nichts mit der Frage zu tun«, verkündet die Lehrerin.
    Ich bin leicht schockiert über ihre Reaktion. Ich hätte erwartet, dass die Lehrerin die Nachricht positiver verpackt, auch wenn der Junge das Thema bei Weitem verfehlt hat. Ich komme von der amerikanischen Tradition her, dass man »den Beitrag eines jeden Kindes würdigt« 62 , wie die Soziologin Annette Lareau so schön schreibt. Indem wir die Kinder sogar noch für banalste Kommentare loben, versuchen wir, ihnen Selbstbewusstsein zu geben und dafür zu

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