Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
sorgen, dass sie sich wohl in ihrer Haut fühlen.
In Frankreich wird diese Form der Erziehung höchst misstrauisch beäugt. Ich merke das, als ich die Kinder zu den Trampolins in die Tuilerien mitnehme. Jedes Kind springt innerhalb eines umzäunten Bereichs auf seinem eigenen Trampolin herum, während die Eltern von Bänken aus zusehen. Aber eine Mutter hat einen Stuhl mit hinter die Umzäunung genommen und ihn direkt vor dem Trampolin ihres Sohnes aufgebaut. »Wow!«, ruft sie bei jedem Sprung. Noch bevor ich sie weiter belauschen kann, weiß ich, dass sie wie ich Angloamerikanerin ist.
Ich selbst kann mich zwar gerade noch beherrschen, zu den Trampolins zu gehen, habe aber jedes Mal das Bedürfnis, »Juchu!« zu rufen, wenn eines meiner Kinder eine Rutsche hinunterrutscht. »Juchu« ist eine Abkürzung für »Ich habe gesehen, wie du das gemacht hast! Bravo, du bist großartig!« Dementsprechend lobe ich meine Kinder auch für ihre misslungensten Zeichnungen und Bastelarbeiten. Ich glaube, das tun zu müssen, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken.
Französische Eltern möchten auch, dass sich ihre Kinder bien dans leur peau , sprich »wohl in ihrer Haut« fühlen. Aber sie verfolgen dabei eine andere Strategie. In gewisser Weise ist sie das genaue Gegenteil der amerikanischen. Sie glauben nämlich nicht, dass ein Lob stets positiv ist.
Die Franzosen sind der Auffassung, dass Kinder Selbstbewusstsein entwickeln, wenn sie etwas alleine hinkriegen, und zwar gut. Haben Kinder das Sprechen gelernt, loben ihre Eltern sie nicht für alles, was sie sagen. Sie loben sie, wenn sie etwas Interessantes gesagt haben oder sich gut ausdrücken. Die Soziologin Raymonde Carroll schreibt, französische Eltern möchten, dass sich ihre Kinder »verbal verteidigen können«. Sie zitiert eine Gesprächspartnerin mit den Worten: »Hat das Kind etwas zu sagen, hört man ihm in Frankreich zu. Aber das Kind darf nicht zu lange brauchen, weil es sonst die Aufmerksamkeit wieder verliert. Zögert es, beendet die Familie den Satz für das Kind. Dadurch lernt es, besser zu formulieren, bevor es den Mund aufmacht. Auf diese Weise lernen Kinder sehr schnell das Sprechen und auch, interessant zu erzählen.«
Selbst wenn französische Kinder interessante Dinge erzählen – oder die richtige Antwort geben –, reagieren die französischen Erwachsenen eher mit Understatement. Sie finden nicht, dass man nach jeder richtig gelösten Aufgabe »Gut gemacht!« sagen muss. Als ich Bean zu einer kostenlosen Kontrolluntersuchung in die Klinik bringe, bittet sie die Ärztin, ein Holzpuzzle zu legen. Bean tut, was von ihr verlangt wird. Die Ärztin betrachtet das fertige Puzzle und macht dann etwas, wozu ich einfach nicht in der Lage bin, nämlich so gut wie nichts. Sie murmelt ein kaum hörbares » Bon «, das eher »Dann machen wir mal weiter« statt »Gut« bedeutet, um dann mit der Untersuchung fortzufahren.
Französische Erzieher und andere Autoritäten weigern sich nicht nur, Kinder direkt zu loben. Sie weigern sich auch, die Kinder gegenüber den Eltern zu loben. Ich hatte gehofft, das sei nur so eine Laune von Beans mürrischer Erzieherin im ersten Jahr gewesen. Im Jahr darauf hat sie zwei Erzieherinnen, die sich abwechseln. Eine ist eine dynamische, äußerst warmherzige junge Frau namens Marina, mit der sich Bean hervorragend versteht. Aber als ich Marina frage, wie es so läuft, sagt sie, Bean sei très compétente . (Ich gebe das in Google Translate ein, um mich davon zu überzeugen, dass mir nicht irgendeine Bedeutungsnuance entgangen ist, die so etwas wie »genial« bedeutet. Aber das Wort bedeutet einfach nur »kompetent«.)
Zum Glück habe ich keine hohen Erwartungen, als Simon und ich uns nach dem ersten Halbjahr mit Agnès, Beans anderer Erzieherin, treffen. Auch sie ist reizend und aufmerksam. Doch sie weigert sich, Bean mit einem Adjektiv zu beschreiben oder irgendeine Aussage über sie zu machen. Sie sagt nur: »Alles bestens.« Dann zeigt sie uns ein einziges Arbeitsblatt – eines von Dutzenden! –, bei dem Bean Probleme hatte. Als das Treffen um ist, habe ich nicht die geringste Ahnung, wie Bean im Vergleich zu ihren Klassenkameraden abschneidet.
Nach dem Treffen bin ich sauer, dass Agnès nichts erwähnt hat, was Bean gut gemacht hat. Simon weist darauf hin, dass das in Frankreich nicht zu den Aufgaben einer Lehrerin gehört. Agnès’ Aufgabe besteht vielmehr darin, Probleme zu erkennen. Hat ein Kind Probleme, sollten die
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