Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
Eltern davon erfahren. Kommt das Kind zurecht, gibt es nichts weiter dazu zu sagen.
Sich auf das Negative zu konzentrieren, statt die Stimmung bei Kindern und Eltern mit Hilfe positiver Rückmeldungen zu heben, ist ein altbekanntes (und häufig kritisiertes) Merkmal französischer Schulen. Es ist so gut wie unmöglich, ein baccalauréat mit Auszeichnung, also ein Einser-Abitur hinzulegen. Hat man 14 von 20 möglichen Punkten, ist das ein Sehr gut, 16 von 20 Punkten sind beinahe schon perfekt. 63
Über Freunde lerne ich Benoît kennen, Professor an einer von Frankreichs Eliteuniversitäten und Vater von zwei Kindern. Benoît sagt über seinen Sohn, ein Gymnasiast, er sei ein herausragender Schüler. Trotzdem sei das Positivste, was ein Lehrer je unter seine Arbeiten geschrieben habe, des qualités (»ganz gut«) gewesen. Laut Benoît beurteilen französische Lehrer ihrer Schüler nicht im Vergleich zu den Mitschülern, sondern messen sie an einem Ideal, das so gut wie niemand erfüllt. 64 Selbst zu einer herausragenden Arbeit sagen die Franzosen, »nicht schlecht, aber das und das und das und das ist falsch.«
Auf der Oberschule werde wenig Wert darauf gelegt, dass die Schüler ihre Gefühle und Meinungen kundtun. »Sagt man: ›Ich liebe dieses Gedicht, weil es mich an eine bestimmte Erfahrung erinnert‹, ist das völlig falsch. Was man in der Schule lernt, ist logisches Denken. Man soll nicht kreativ sein, sondern sich gut ausdrücken können.«
Als Benoît eine Stelle in Princeton antrat, war er überrascht, als sich Studenten beschwerten und sagten, er würde viel zu streng benoten. »Ich habe gelernt, dass man dort selbst über den schlechtesten Aufsatz noch etwas Positives sagen muss«, erinnert er sich. Umgekehrt höre ich, dass eine Amerikanerin, die an einem französischen Gymnasium unterrichtet, Beschwerden zu hören bekam, als sie 18 von 20, und sogar 20 von möglichen 20 Punkten vergab. Die Eltern nahmen an, der Unterricht sei zu leicht und die Noten »gefälscht«.
So viel Kritik kann Kinder einschüchtern. Eine Freundin von mir, die französische Schulen besucht hat, bis sie in Chicago auf die Highschool kam, war völlig überrascht zu sehen, wie selbstbewusst sich amerikanische Schüler im Unterricht zu Wort melden. Anders als an französischen Schulen wurden sie nicht dafür kritisiert, falsche Antworten zu geben oder dumme Fragen zu stellen. Eine andere Freundin, eine französische Ärztin, die in Paris lebt, erzählt mir aufgeregt von ihrem neuen Yoga-Kurs, der von einer Amerikanerin geleitet wird. »Sie erzählt mir ständig, wie gut ich das mache und wie schön ich bin!« In all ihren Jahren an französischen Schulen ist sie vermutlich noch nie so viel gelobt worden.
Im Allgemeinen äußern sich französische Eltern aus meinem Bekanntenkreis lobender als französische Lehrer. Sie loben ihre Kinder und geben ihnen positive Rückmeldungen. Trotzdem übertreiben sie es nicht so wie wir Amerikaner.
Ich habe den Verdacht, dass sie Recht damit haben könnten, nicht so viel zu loben. Vielleicht merken sie, dass die Kinder dadurch süchtig nach positivem Feedback werden können. Nach einer Weile sind sie auf ständige Bestätigung von anderen angewiesen, um sich wohl in ihrer Haut zu fühlen. Und wenn Kinder ständig für alles gelobt werden, werden sie sich in Zukunft nicht mehr so anstrengen – gelobt werden sie ja sowieso.
Das Loben scheint ein weiterer Bereich zu sein, in dem französische Eltern mit Hilfe von Tradition und Intuition genau das tun, was Wissenschaftler empfehlen.
In ihrem Buch 10 schockierende Wahrheiten über Erziehung: Was eine Stunde Schlaf mit ADS zu tun hat, warum Sie Ihr Kind besser nicht loben sollten und warum besonders gut gemeinte Erziehung keine »Engel« produziert schreiben Po Bronson und Ashley Merryman, dass die Überzeugung Lob, Selbstbewusstsein und Leistung würden miteinander einhergehen, von neueren Forschungsergebnissen zu Fall gebracht wurde. Diese belegen, dass exzessives Lob falsche Anreize schafft, »weil Kinder Dinge zusehends nur deshalb tun, um dafür gelobt zu werden. Die intrinsische Motivation geht verloren.« Bronson und Merryman weisen auf Forschungsergebnisse hin, die belegen, dass viel gelobte Schüler »immer risikoscheuer werden und sich als weniger selbstständig empfinden«. Als College-Studenten brechen sie »Kurse lieber ab, anstatt sich mit einer mittelmäßigen Note zufriedenzugeben, und es fällt ihnen schwer, sich für ein
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