Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
sei für meine Ansichten verantwortlich, ich sollte und dürfe sie überprüfen und bewerten. Geschichtsforscher und Gräzisten zeigten mir, wie man genau liest; Philosophen lehrten mich, auch die christlichen Dokumente nach Für und Wider zu durchdenken. Sie machten mir Mut zur Revision von Überzeugungen. Sie schlugen die Zweifel nieder, ob ich, der ich schwankte, es mir überhaupt erlauben dürfe, die feierlichsten Sätze selbständig zu untersuchen. Sie zeigten mir: Gläubige stellen sich genau wie Ungläubige unvermeidlich als urteilendes Ich der Tradition gegenüber. Auch wer sie übernimmt, selbst wer lehrt, kein Erdenwurm dürfe sich beurteilend über Gottes Wort stellen, richtet über sie; er erklärt sie für übernehmenswert und weist andere Traditionen zurück. Nicht christentumsfeindliche philosophische Thesen, die im Umlauf waren, erzeugten die Reibung, sondern ich erzeugte sie selbst. Ich sah mich ermutigt, Weltauslegungen eigenwillig-distanziert zu untersuchen. Nichts, was mir wichtig war, sollte als selbstverständlich gelten, zunächst – die Verbrecher waren noch an der Macht – nichts Politisches, dann nichts vom Schulstoff, nichts aus allen wilden Lektüren und zuletzt nicht die christliche Religion, die mir dazu verholfen hat, mich als ein Ich zu begreifen, das für Wahrheit und Unwahrheit zuständig ist.
Zufälle der Geburt, der Geschichte und der Umgebung, von denen ich erzählen muß, halfen mit; sie machten mein Leben und Denken zu einem individuellen Beispiel für das heutige Verhältnis von Philosophie und Religion. Dies vereinfacht darzustellen ist das Ziel dieses Buches. Ich verschweige nicht die individuelle Konstellation. Sie zu wiederholen ist weder möglich noch wünschenswert. Jeder Leser kann prüfen, was davon er in seine Überlegungen einführt oder abweist. Auf den Zusammenhang von Individualität und Wahrheit komme ich zurück; einleitend gebe ich diese Überlegung Goethes in Dichtung und Wahrheit zu bedenken:
Der Mensch mag seine höhere Bestimmung auf Erden oder im Himmel, in der Gegenwart oder in der Zukunft suchen, so bleibt er doch innerlich einem ewigen Schwanken, von außen einer immer störenden Einwirkung ausgesetzt, bis er ein für allemal den Entschluß faßt, zu erklären, das Rechte sei das, was ihm gemäß ist.
Nicht, als handle es sich beim Sprechen für den christlichen Glauben nur um rein individuelle Seelenaffären. Einiges läßt sich objektiv sagen, sowohl vom Christentum wie von der Philosophie. Um mit der Philosophie zu beginnen: Es läßt sich überprüfbar belegen, daß und wie sie früh in Konflikt trat mit der Götterwelt der Hellenen. Daß sie ihren Bildungsvorrang gegen Dichtung und Religion polemisierend durchsetzte, oft mit rohen Worten:
Heraklit wollte, Homer sollte ausgepeitscht werden. Denn Homers viele, rivalisierende Götter täuschten über die eine, göttlich-naturhafte Realität. Die Griechen müßten umerzogen werden. Die Götter Homers und Hesiods, sagten die frühen Philosophen, seien Erfindungen von Menschen.
Platon kritisierte diese Götter. Seine Philosophie sollte das korrupte Leben Athens korrigieren, das private wie das öffentliche. Sie sollte das richtige Leben durchsetzen, auch gegen volkstümliche Religionsvorstellungen. Notfalls, indem sie diese uminterpretierte. Manche von ihnen enthalten wahre Ahnungen wie die Sprüche des Orakels, aber das Übermaß der Korruption, das zur Hinrichtung des gerechtesten Menschen geführt hat, beweist, daß es an der Zeit ist, begründende Rechenschaft zu geben von lebensleitenden Überzeugungen.
Sokrates hat gezeigt, wie das aussieht: Ein Einzelner sieht sich verantwortlich für das, was er denkt und sagt. Er nimmt sich nicht mehr nur als Produkt seiner Verhältnisse; er stellt sich ihnen gegenüber. Nichts, was lebensbestimmend wichtig ist, steht ihm unbefragt fest, außer, daß er dies alles prüfen muß. Keineswegs will er alles prüfen, wohl aber alles, was allgemein als gut gilt. Diese Prüfung regt einige junge Leute an zu Enthusiasmus, erzeugt aber auch Haß. Sokrates zeigt, wie unsicher die bestehenden Meinungen über das richtige Leben sind; er sucht nach neuen. Diesen Eigensinn nimmt man ihm übel. Er trägt die Kosten des Verfahrens, bis zum Tod.
Der Konflikt bestand schon in vorsokratischer Zeit. Das belegt Heraklits Fragment B 42. Anaxagoras erklärte, Helios, die Sonne, sei kein Gott, sondern ein Haufen glühender Steine. Er griff die herrschende Religion an, um den
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