Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
Natur des Menschen; das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß einige Menschen in unseren Breiten sie noch behaupten und daß andere sie diskutieren. Zudem haben sie gesellschaftlichen und politischen Einfluß; sie haben sogar ökonomische Bedeutung, nicht nur für Wallfahrtsorte. Daher lasse ich mir nicht einreden, ich dürfe sie gar nicht in Frage stellen. Ich weiß, daß fromme Christen ihren Glauben als Wirkung Gottes sehen, die sie nicht zu verantworten haben. Wenn sie damit begründen wollen, daß sie ihn nicht diskutieren können, beenden sie die philosophische Unterhaltung. Ich verstehe hier ‹Philosophie› als die entschiedene Ansicht, für meine Annahmen selbst verantwortlich zu sein. Folglich bin ich nicht verletzt, wenn ein anderer sie nicht teilt. Ich beharre aber darauf, ein ‹Subjekt› sein zu dürfen, das beurteilen kann, was ihm wichtig ist. Zugleich weiß ich, daß ich ein ‹Subjekt› unter Subjekten bin. Deswegen interessiere ich mich für sie und nehme ihre Selbstdarstellungen so peinlich genau, daß oberflächliche Zuschauer meine Vorgehensweise als ‹positivistisch› verwerfen. Was ich wirklich tue, ist momentane Selbstverwandlung des philosophischen Impulses in historisch-philologische Recherche. Diese ist bei einem geschichtlichen Gegenstand, wie es das Christentum ist, unentbehrlich. Mein Nachdenken sucht etwas zu entscheiden, was jetzt bei mir zur Entscheidung ansteht und achtet deshalb sorgfältig auf meine Zeitstelle – was mehr ist als deren bloß korrekte Datierung – und macht sich dazu die geschichtliche Differenz zum Untersuchten klar, hier zu den geschichtlich gewachsenen Formen des Christentums und zu ihrer gegenwärtigen Rolle.
Man sieht, wie heikel die Frage werden kann, was ein Christ ist. An der Eigentumslosigkeit, also am Liebeskommunismus, erkennt man die Christen schon lange nicht mehr. Kaum auch noch am Herbeisehnen des Jüngsten Gerichts. Diese uralten Versionen sind de facto verschwunden oder bringen sich nur an Rändern in Erinnerung. Sie zeigen, daß es im ‹Christentum› so etwas wie geologische Schichten gibt.
Was das Christentum sagt, bestimmt nicht der, der sich für es entscheidet. Gewiß gibt er ihm seine eigene Note, denn er entscheidet sich unter seinen Bedingungen; er fügt es in das Gesamt seiner Erwartungen und Ansichten ein; er sieht es aus seiner individuellen Situation. Und doch liegt ein differenzierter geschichtlicher Stoff vor ihm. Früher hat das Christentum sich lebhaft bewegt und ganze Völker in seinen Strudel gerissen. Heute steht es erstarrt, aber wohlgeschichtet vor uns, denn früher haben die Kirchen ihre Ansichten als Alleinstellungsmerkmale mit schneidender Klarheit definiert. Ich gehe von ihren Selbstdarstellungen aus, nicht von der Selbstcharakteristik einzelner Christen. Das ist ein gewaltiger Stoff in seiner historischen Breite vom ersten Paulusbrief bis zu den kirchlichen Verlautbarungen der letzten Jahre, auch wenn ich außer der Bibel nur Urkunden des westlichen Christentums heranziehe. Diesen Stoff wird nicht los, wer sich mit ausgewählten Punkten der christlichen Botschaft – wie mit dem Leiden Jesu, der Nächstenliebe oder der Gnade – identifiziert. Ich gehe von den geschichtlichen Quellen des Christentums aus. Das erzeugt vermutlich den Eindruck, was ich ablehnte, sei nur ein veraltetes, ein heute kaum noch vertretenes Christentum. Das muß so aussehen bei Christen, die nur ein abgespecktes Christentum, eine ‹Orthodoxie light› kennen. Ich behaupte, es sei die Altertümlichkeit des unverkürzten Christentums selbst. Ob das stimmt, kann nur der Gang zum einzelnen Lehrpunkt und seinen Quellen entscheiden. Damit zeichnet sich der Weg ab, den mein kleines Buch nimmt:
Zuerst kommt ein kurzes autobiographisches Intermezzo. Ich erzähle ein wenig von meiner christlichen Sozialisation. Mit dem ersten Kapitel beginnt die sachliche Argumentation. Es beschreibt geschichtliche Lebensbedingungen des modernen Christentums, realgeschichtliche und intellektuelle. Es handelt von den historischen Einschnitten, die es seit dem 18. Jahrhundert mehr umgeformt haben, als seine Bekenner gewöhnlich wissen. Mancher wird mir zugeben, das Christentum sei ein historischer Gegenstand, aber ich möchte diese Redensart in konkrete Anschauung und Begriffe umwandeln. Auch die Sichtweise, mit der wir es sehen, hat sich verändert. Einen scharfen Einschnitt brachte die historisch-kritische Methode. Ich stelle sie daher im ersten Kapitel kurz
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