Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
über die Judenverfolgung und Hitlers Kriegsverbrechen gehört. Diese Herren hatten nicht nur die Interessen ihrer Konfession im Sinn, sondern förderten in mir früh philosophische, historische und kunstgeschichtliche Interessen, so daß mir in den letzten Kriegsmonaten der Gedanke kam, die katholische Kirche könnte in dieser neuen Barbarenzeit noch einmal die antike Kultur, ihre Philosophie, auch das mittelalterliche Denken, den Humanismus und die deutsche Klassik in sich aufnehmen und in die ungewisse Zukunft vermitteln. Dieses hohe Bild kirchlicher Kulturmission hielt mich nach dem Krieg einige Jahre in seinem Bann; mein Studium brachte mich davon ab. Meine Kindheitsgeschichte habe ich an anderer Stelle erzählt; [2] die intellektuelle Entwicklung im Frankfurt der fünfziger Jahre zu erzählen, wäre nicht ohne Interesse, denn ich war als gewählter Fachschaftsvertreter jahrelang der einzige Student, der an den Fakultätssitzungen der Philosophischen Fakultät teilnehmen durfte, würde aber dieses Buch sprengen; hier trage ich nur einige Szenen nach, die plausibel machen, daß ich heute kein Christ bin.
Im Herbst 1959 begann ich meine Arbeit als Studienassessor an einem hessischen Gymnasium. Ich unterrichtete Deutsch, Geschichte und Philosophie, zuweilen auch Latein. Religion als Schulfach zu wählen habe ich bewußt abgelehnt; ich wollte schon als Zwanzigjähriger keinen kirchlichen Regeln und Kontrollen unterstehen, sondern in Freiheit über sie nachdenken. Es gab kein Jahr in meinem Leben, in dem ‹Glaube oder Unglaube› mein einziges Thema gewesen wäre, aber ich kam immer wieder einmal zum Thema ‹Christentum› zurück, und als es 1959 gegen Weihnachten ging, schlug ich meinen Primanern vor: Wir könnten für ein paar Stunden über Religion reden. Kaum hatte ich den Satz beendet, rief mir einer der jungen Männer in üppiger Tonlage zu: «Aber sind Sie denn schon entmythologisiert?» Ich sagte lachend: Ja. Denn ich war es wirklich und fand es gescheit und witzig, wie Klaus Weckesser das Wort ‹entmythologisiert› so verfremdete, daß es klang wie ‹entnazifiziert›. Dieses Wort lag damals in der Luft. Später erzählten mir die Schüler, sie hätten in der evangelischen Religionsstunde den Pastor mit derselben Frage begrüßt; er habe aber ungehalten reagiert; er bekannte sich als frischer DDR-Flüchter und Gegner Bultmanns. Ich hielt die freche Frage für die beste Eröffnung einer Arbeitseinheit ‹Philosophie der Religion›. Und daß ich gründlich ‹entmythologisiert› war, das kam so:
Ich studierte seit Jahresbeginn 1952 an der Universität Frankfurt. Ich wußte, daß ich als Elternloser nicht das Geld hatte, lange zu studieren; ich suchte mir bewußt die besten Professoren aus, um bei diesen in kurzen Jahren gründlich und quasi-exklusiv zu studieren. Ich wählte Max Horkheimer und Wolfgang Cramer statt Sturmfels und Allwohn für die Philosophie, bald auch Adorno und Hirschberger. Im Fach Geschichte entdeckte ich Matthias Gelzer und Paul Kirn, der nicht nur altmodisch gelehrt, sondern auch witzig war. Ich warf mich mit Leidenschaft auf Alte und Mittlere Geschichte, entdeckte bald für mich die bedeutenden Frankfurter Gräzisten Patzer und Langerbeck, ging auch gern mit meiner Freundin zu dem Romanisten Erhard Lommatzsch (1886–1975), der kenntnisreich von Montaigne sprach und mit der verschmitzten Bonhomie eines älteren Gelehrten die anwesenden Damen davor warnte, Rabelais zu lesen, was mich für immer für diesen Autor gewann. Ich hörte auch Germanisten, aber ihr schlechtes Deutsch stieß mich ab, bis ich durch meinen Freund Herbert Heckmann Kurt May und Walter Höllerer entdeckte.
Jeder Studientag begann um 8 Uhr mit den Vorlesungen von Matthias Gelzer: von 9 bis 10 folgte Paul Kirn, von 10 bis 11 saß ich bei Otto Vossler, den wir den ‹müden Lord› nannten. Er hatte eine Fürstin Solms geheiratet, wohnte in deren Schloß und demonstrierte ironische Distanz zu seinem bescheidenen Brotberuf als Professor. Mein Nachmittag gehörte den Philosophen.
Ganz anders als Otto Vossler, der Sohn des berühmten Karl Vossler, war Matthias Gelzer (1886–1974) mit Leib und Seele Lehrer. Er kämpfte darum, daß wir bei ihm etwas lernten. Er war ein ebenso leidenschaftlicher Pädagoge wie ein bedeutender Forscher. Daß, wer in sein Proseminar kam, von Theodor Mommsen die Römische Geschichte gelesen hatte, betrachtete er als selbstverständlich; aber er geriet schon bei kleinerem
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