Was allein das Herz erkennt (German Edition)
war er zu ihr ins Bett gekommen. Nachdem er sich Monate von ihr fern gehalten hatte, hatte er sie endlich wieder in den Armen gehalten, ihr Zärtlichkeiten ins Ohr geflüstert, sie geliebt, mit jeder Faser seines Seins.
Er war unvorstellbar zärtlich gewesen. Er hatte ihr im Flüsterton gesagt, dass er sie verletzt habe, sie unendlich liebe und Kylie Recht gehabt habe, es sei etwas geschehen. »Was ist geschehen, Martin? Sag es mir«, hatte May ebenfalls im Flüsterton gesagt.
»Wir stehen es gemeinsam durch«, hatte Martin erwidert, aber mehr hatte er nicht gesagt.
Und so war es in den nächsten Tagen: Plötzlich taten sie alles gemeinsam. Kein Weihnachtsgeschenk hätte sie glücklicher machen können. Martin bat um ihre Hilfe, wenn er ein Bad nehmen wollte oder etwas zum Anziehen brauchte. Er hatte zugelassen, dass sie ihm die Schuhe zuband. Als er gegen einen Stuhl gelaufen war, hatte er sie gebeten ihm zu helfen, seinen Weg zu finden. Beim Frühstück hatte er sich von ihr zeigen lassen, wo was auf dem Tisch stand.
May hatte seine Hand geführt.
»Hier ist dein Kaffee, dein Teller. Muffins sind dort drüben, in dem Korb.«
»Da drinnen ist die Butter«, hatte Kylie gesagt und die geschlossene Dose näher geschoben. »Und hier ist ein Messer …«
Sie hatten den Weihnachtsbaum geschmückt. Genny war auf den Dachboden gestiegen und hatte Kartons heruntergeholt, gefüllt mit Agnes’ altem Christbaumschmuck. Martin hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt und zugehört, als Kylie ihn beschrieb: »Eine rote Kugel mit einem Glitzer-Schneemann, ein goldenes Rentier, vier weiße Schneeflocken.«
»Aus Papier?«
»Ja.«
»Die habe ich gebastelt, als ich in der zweiten Klasse war.«
Kylie hatte sie ganz vorne aufgehängt, auf einem Ehrenplatz. Sie hatte auch Christbaumschmuck in Form von Eishockey-Schlittschuhen, Puck und Schläger gefunden. Und sechs kleine Engel aus Glas. Aber was ihre Aufmerksamkeit am meisten fesselte, war eine kleine silberfarbene Glocke.
Sie war aus Pappmaschee, schief und mit ungleichmäßigen Rändern. Kylie inspizierte sie von innen und außen. Sie war mit grünen Girlanden verziert und trug die Initialen »N. C.«. Als Kylie die Glocke hochhielt, klingelte sie.
»Natalies Glocke«, sagte Martin.
»Hab ich schon gesehen. Sie hat ihre Anfangsbuchstaben darauf gemalt.«
»Sie hat sie mir zu Weihnachten geschickt, als sie fünf war«, sagte Martin. »Ich konnte damals nicht bei ihr sein.«
»Wo war sie?«
»Bei ihrer Mutter, weit weg.« Martin lächelte.
»Du hast sie gesehen, oder?« Kylie blickte ihn an. »Sie war hier.«
»Ja, sie war hier.«
May hielt den Atem an. Martins Augen leuchteten, genauso blau wie früher, als sähe er etwas in dem Raum und darüber hinaus. Und Kylie konnte vor Aufregung kaum stillsitzen.
»Was hat sie gesagt?«
»Dass du von Anfang an Recht hattest. Dass –«
»Glaubst du mir jetzt? Dass ich sie wirklich gesehen und mir das Ganze nicht ausgedacht habe?«
»Ja, ich glaube dir.«
Mays Blick fiel auf das blaue Tagebuch. Sie hätte das Gespräch aufschreiben, die Aufzeichnungen durch Martins Erfahrungen erhärten können. Aber stattdessen blickte sie von Martin zu Kylie, von einem Vater, der eine Tochter brauchte, zu einer Tochter, die einen Vater brauchte.
»Stimmt was nicht, Mom?«, fragte Kylie, als sie Mays Gesicht sah.
May wischte sich über die Augen. »Ich hätte sie auch gerne gesehen. Ich hätte Natalie gerne kennen gelernt.«
»Ja, das wäre schön gewesen«, sagte Martin und streckte die Hand so lange aus, bis May sie ergriff.
Kylie lachte, als sie die alte Glocke läutete: Der Klöppel war nichts weiter als eine gedrehte Heftklammer und die Glocke aus Zeitungspapier geformt, in Wasser und Leim eingeweicht und bemalt. Doch plötzlich wehten die Klänge anderer Glocken zum Fenster hinein.
Sie trugen weit, über die Hügel und den See. Sie hallten von den Bergen wider, raunten im kahlen Geäst der Platanen, Ahornbäume und Kiefern. Sie drangen über das Eis, um ein Vielfaches verstärkt durch die tiefen Schlupfwinkel und gedämpft durch die seichten Buchten im See.
»Hört doch!«, rief Kylie.
»Was ist das?«, fragte May.
»Das Glockenspiel von Sainte Anne«, sagte Martin.
»Das ist ein Weihnachtslied.« May lauschte den klaren Tönen. Aber es war kein Weihnachtslied, sondern eine Hymne, und Martin erkannte sie noch vor ihr.
» Amazing Grace «, sagte er.
May erinnerte sich vage an die Worte. Sie hatten die Hymne beim
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