Was am Ende bleibt
habe, es sei denn beim Vorlesen.
Ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, antwortete Heath: «Ja, da gibt es doch noch die zweite Art von Leser. Das sind die sozial Isolierten – Kinder, die sich schon im frühen Alter ganz anders vorkommen als alle anderen um sie herum. Das in einem Interview herauszufinden ist sehr, sehr schwierig. Keiner gibt gern zu, dass er als Kind sozial im Abseits stand. So jemand überträgt das Gefühl, anders zu sein, in eine Phantasiewelt. Diese Welt aber ist eine Welt, die man mit keinem teilen kann – weil sie ja phantasiert ist. Daher ist für so jemanden der wichtigste Dialog der mit den
Autoren
der Bücher, die er liest. Auch wenn sie nicht da sind, werden sie zur Gemeinschaft.»
Der Stolz zwingt mich an dieser Stelle, einen Unterschied zwischen jungen Literaturlesern und jungen Nerds zu machen. Der klassische Nerd, der sich in Fakten, Technik oder Zahlen einrichtet, zeichnet sich nicht durch eine übertragene Geselligkeit, sondern eine
Anti
-Geselligkeit aus. Natürlich, Lesen ähnelt nerdigen Beschäftigungen darin, dass es eine Angewohnheit ist, die von einem Gefühl der Isolation lebt und es noch verstärkt. Doch als Kind «sozial isoliert» zu sein verdammt einen nicht automatisch zu Mundgeruch und ungeschicktem Partyverhalten als Erwachsener. Tatsächlich kann es einen sogar hypersozial werden lassen. Nur verspürt man eben an einem bestimmten Punkt ein nagendes, beinahe reumütiges Bedürfnis, allein zu sein und zu lesen – die Verbindung zu dieser anderen Gemeinschaft wiederherzustellen.
Heath zufolge ist unter Lesern des sozial isolierten Typus(sie nennt sie auch «Resistenz»-Leser) die Wahrscheinlichkeit, Schriftsteller zu werden, viel größer als bei denen des Vorpräge-Typus. Wenn das Kommunikationsmedium in der Kindheit Literatur war, liegt es nahe, dass man als erwachsener Literat Literatur für sein Verbundenheitsgefühl weiterhin als wesentlich erachtet. Was als antisoziales Naturell «bedeutender» Autoren wahrgenommen wird, sei es nun das Exilantentum von James Joyce oder J. D. Salingers Einsiedlertum, lässt sich in hohem Maße auf die soziale Isolation zurückführen, die nötig ist, um eine Phantasiewelt zu bewohnen. Heath blickte mir in die Augen und sagte: «Sie sind ein sozial isoliertes Individuum, das verzweifelt mit einer überzeugenden Phantasiewelt kommunizieren will.»
Ich wusste, dass sie mich trotz der Anrede «Sie» eigentlich nicht persönlich meinte. Dennoch war mir, als blickte sie mir tief in die Seele. Und das Hochgefühl, das mich überkam, als sie mich mit unpoetischen Polysyllaba beiläufig beschrieb, war für mich die Bestätigung, dass diese Beschreibung zutraf. Ganz einfach als das erkannt zu werden, was ich war, ganz einfach nicht missverstanden zu werden: das hatte sich mir mit einem Mal als Grund enthüllt, warum ich schrieb.
Im Frühjahr 1994 war ich ein sozial isoliertes Individuum, dessen verzweifelter Wunsch es vor allem war, ein wenig Geld zu verdienen. Nachdem meine Frau und ich uns zum letzten Mal getrennt hatten, unterrichtete ich an einem kleinen geisteswissenschaftlichen College literarisches Schreiben, und obwohl ich viel zu viel Zeit daran verschwendete, machte mir die Arbeit Spaß. Das Können und der Ehrgeiz meiner Studenten, die noch gar nicht geboren gewesen waren, als die Satire-Show
Rowan & Martin’s Laugh-In
erstmals ausgestrahlt wurde, feuerten mich an. Dass mehrere meiner besten Schreiber allerdings geschworen hatten, nie wieder einen Literaturkurs zu belegen, bedrückte mich. An einem Abend berichtete ein Student, in seinem Kurs überzeitgenössische Literatur hätten sie eine ganze Stunde lang die Frage diskutieren müssen, ob die Romanautorin Leslie Marmon Silko homophob sei oder nicht. An einem anderen Abend, ich kam gerade in den Seminarraum, schütteten sich drei Studentinnen über den utopisch-feministischen Roman, den sie für ein Oberseminar «Frauen und Literatur» lesen mussten, vor Lachen aus.
Der therapeutische Optimismus, der heute in Amerikanistik-Seminaren wütet, will Romane unbedingt in zwei Schubladen sortieren: «Krankheitssymptome» (kanonische Werke aus der Dunklen Zeit vor 1950) und «Medizin für eine glücklichere und gesündere Welt» (Werke von Frauen und nichtweißen oder nichtheterosexuellen Autoren). Dabei sind die zeitgenössischen Schriftsteller, deren Werk von der akademischen Welt ein derart optimistischer Nutzen zugeschrieben wird, nur selten dafür verantwortlich zu
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