Was am Ende bleibt
Die Aufforderung, die Depression zu überwinden, sei es durch Medikamente oder Therapie oder Willensanstrengung, hat etwas von der Aufforderung, allen düsteren Einsichten in Korruptheit und Infantilismus und Selbsttäuschung der schönen neuen McWelt den Rücken zu kehren. Dabei sind diese Einsichten das einzige Vermächtnis eines Autors von Gesellschaftsromanen, der die Welt nicht lediglich in ihren Details, sondern in ihrem Wesen darstellen möchte, der das moralisch blinde Auge des virtuellen Wirbelsturms beleuchten will und glaubt, der Mensch verdiene etwas Besseres als eine Zukunft äußerst preiswert elektronischer Kuppeleien, die schon heute für ihn ausgeheckt werden.Statt zu sagen:
Ich habe Depressionen
, will man sagen:
Ich habe recht!
Aber alle erkennbaren Anzeichen deuten darauf hin, dass man ein Mensch geworden ist, mit dem ein anderer unmöglich zusammenleben kann und nur ungern redet. Und da man als Schriftsteller zunehmend das Gefühl hat, man sei eine der letzten verbliebenen Bastionen sowohl des depressiven Realismus als auch der Fundamentalkritik an der Therapiegesellschaft, die diesen depressiven Realismus widerspiegelt, wird die Bürde, die der eigenen Kunst auferlegt wird, doch aber bitte Neuigkeiten zu überbringen, erdrückend. Man fragt sich: Wozu überhaupt der Aufwand, diese Bücher zu schreiben? Ich kann doch nicht so tun, als hörte der Mainstream auf das, was ich zu überbringen habe. Ich kann doch nicht so tun, als unterwanderte ich etwas, schließlich hat jeder Leser, der in der Lage ist, meine subversiven Botschaften zu entziffern, sie gar nicht mehr nötig (und die aktuelle Kunstszene erinnert einen ständig daran, wie albern die Sache wird, wenn Künstler anfangen, offene Türen einzurennen). Jede wie auch immer geartete Vorstellung, anspruchsvolle Literatur sei
gut für uns
, liegt mir völlig quer, weil ich nicht glaube, dass es gegen alles, was schlecht ist an der Welt, ein Heilmittel gibt, und selbst wenn ich es glaubte, wie käme ich, der ich mich doch als der Kranke fühle, dazu, es zu verabreichen? Auf jeden Fall ist es schwierig, in Literatur Medizin zu sehen, wenn Lesen vor allem dazu beiträgt, die deprimierende Entfremdung vom Mainstream noch zu verstärken; früher oder später wird der Therapien zugängliche Leser das Lesen für die eigentliche Krankheit halten. Sophie Bentwood beispielsweise steht die Prozac-Kandidatin ins Gesicht geschrieben. Egal wie erhaben oder komisch ihre Qualen sind, egal wie zutiefst menschlich sie im Lichte dieser Qualen wirkt – ein Leser, der sie mag, wird sich bestimmt die Frage stellen, ob ein Besuch beim Therapeuten für sie nicht vielleicht das Beste wäre.
Letztlich wehre ich mich auch deshalb gegen die Vorstellung von Literatur als Ausdruck einer edlen höheren Berufung, weil sich das Elitedenken nicht gut mit meinem amerikanischen Naturell verträgt und weil, selbst wenn mein Glaube an Mysterien mich nicht veranlassen würde, Überlegenheitsgefühlen zu misstrauen, mein Glaube an Gewohnheiten es mir schwerfallen ließe, meinem Bruder, der Michael Crichton gut findet, zu erklären, dass das, was ich mache, schlicht
besser
ist als das von Crichton. Nicht einmal die französischen Poststrukturalisten mit ihrer philosophisch unangreifbaren Feier der «Lust am Text» können mir da heraushelfen, weil ich weiß, dass das, was mir – egal wie metaphorisch reich und sprachlich raffiniert
Was am Ende bleibt
auch ist – bei meiner ersten Lektüre vor allem auffiel, nicht die aufreizend freudvolle Kette endloser Assoziationen war, sondern das an dem Roman Kohärente und geradezu mörderisch Zwingende. Ich weiß, es gibt einen Grund dafür, dass ich gern las und auch gern schrieb. Aber jede Entschuldigung und gar Verteidigung scheint sich im Zuckerwasser der zeitgenössischen Kultur aufzulösen, und binnen Kurzem wird es einem dann auch noch schwerfallen, morgens aufzustehen.
Zwei schnelle Verallgemeinerungen über Schriftsteller: Wir fragen lieber nicht zu sehr nach, wenn es um unser Lesepublikum geht, und wir mögen die Sozialwissenschaften nicht. Irgendwie unangenehm also, dass der Leuchtturm in der Düsternis – die Person, die unwissentlich am meisten dazu beigetragen hat, dass ich als Schriftsteller wieder vorangekommen bin – ausgerechnet eine Sozialwissenschaftlerin war, die das Lesepublikum anspruchsvoller Literatur in Amerika erforschte.
Shirley Brice Heath ist MacArthur-Fellow, Ethnolinguistin und Professorin für Englisch
Weitere Kostenlose Bücher