Was am Ende bleibt
Systeme und sogar unsere kommerzialisierten Religionen so verfeinert werden, dass sie jeden von uns zum Mittelpunkt seines eigenen Universums aus Wahlmöglichkeiten und Erfüllungen werden lassen, aus der Kunst? Die Antwort der Literatur auf den Stachel schlechter Gewohnheiten ist, sie ins Lächerliche zu ziehen. Der Leser lacht mit dem Autor, fühlt sich mit dem Stachel weniger allein. Das ist ein heikles Verfahren, und es erfordert einiges an Arbeit. Aber wie kann die Literatur mit einem System konkurrieren – schauen Sie erst aufs Display, bevor Sie einen Anruf entgegennehmen; gehen Sie per Modem aus; verschaffen Sie sich das Geld, um ausschließlich in jener privatisierten Welt verkehren zu können, in der Arbeitnehmer, wollen sie ihre Stelle nicht verlieren, höflich sein müssen –, das einem den Stachel schon von vornherein erspart?
Auf lange Sicht wird der Zusammenbruch des Kommunitarismus wohl alle möglichen hässlichen Folgen haben. Auf kurze Sicht jedoch, in diesem Jahrhundert ungeheurer Prosperität und Gesundheit, fordert er von den alten Methoden, mit diesem Schmerz zurechtzukommen, in hohem Maß Tribut. Empfindet einer Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Verlust – Empfindungen, die die gesellschaftliche Atomisierung hervorrufen mag und die unter O’Connors Oberbegriff Mysterienzusammengefasst werden können –, genügt es schon, das als Krankheit abzustempeln. Eine Krankheit hat Ursachen: eine anormale Gehirnchemie, sexuellen Missbrauch in der Kindheit, Staatskneteschnorren, das Patriarchat, gesellschaftliche Dysfunktion. Sie hat auch Heilmittel: Antidepressiva wie Zoloft, Traumatherapie, den republikanischen «Contract with America» zur moralischen Erneuerung des Kongresses, Multikulturalismus, das World Wide Web. Selbst eine Teilbehandlung oder eine endlose Abfolge von Teilbehandlungen, die nichts bewirken, oder auch nur der Trost, der darin liegt zu wissen, dass man eine Krankheit hat – alles ist besser als ein Mysterium. Die Wissenschaft hat das Mysterium der Religion schon seit Langem im Visier. Aber erst als die angewandte Wissenschaft in Gestalt der Technologie sowohl die Nachfrage nach Literatur als auch den gesellschaftlichen Kontext veränderte, in dem Literatur geschrieben wird, bekamen wir Schriftsteller die Folgen deutlich zu spüren.
Selbst jetzt, selbst wenn ich meine Hoffnungslosigkeit vorsichtig in der Vergangenheitsform formuliere, fällt es mir schwer, mich zu all diesen Zweifeln zu bekennen. In Verlagskreisen werden Bekenntnisse zu Zweifeln weithin als «Gejammer» angesehen – womit gemeint ist, dass Kulturelles betreffende Klagen von Autoren, deren Bücher sich nicht verkaufen, erbärmlich und selbstsüchtig sind, jene von Autoren, deren Bücher sich verkaufen, dagegen etwas Unhöfliches haben. Für Menschen, die ihre Privatsphäre so sehr schützen und so überaus konkurrenzbewusst sind wie Autoren, wäre stummes Leiden wohl der sicherste Weg. Wie sehr einen ungute Gefühle auch plagen, ist es doch das Beste, Zuversicht auszustrahlen und zu hoffen, dass sie ansteckend ist. Wenn ein Schriftsteller öffentlich erklärt, der Roman sei dem Untergang geweiht, kann man Gift darauf nehmen, dass sein neues Buch nicht gut läuft; für seinen Ruf ist das,als würde er blutend in haiverseuchtem Gewässer schwimmen.
Noch schwerer fällt es zuzugeben, wie depressiv ich war. In dem Maß, wie das soziale Stigma der Depression abnimmt, nimmt das ästhetische Stigma zu. Es ist ja nicht nur so, dass die Depression bis zur Banalität hin modern geworden ist. Es ist das Gefühl, dass wir in einer vereinfachend binären Kultur leben:
Entweder man ist gesund oder man ist krank, entweder man funktioniert oder man funktioniert nicht. Und wenn einem gerade diese Planierung des Möglichkeitenfeldes Depressionen bereitet, neigt man dazu, sich der Teilnahme an dieser Planierung zu verweigern, indem man sich selbst als depressiv bezeichnet. Man beschließt zu denken, dass die Welt krank ist und dass die widerständige Weigerung, in einer solchen Welt zu funktionieren, von Gesundheit zeugt. Man ergibt sich einem, wie der Kliniker sagt, «depressiven Realismus». Davon singt auch der Chor in
König Ödipus
: «Ihr Menschengeschlechter, ach!/Euch, die leben im Lichte, wie/Zähl ich ähnlich dem Nichts euch!/Denn welcher der Sterblichen/Nimmt ein größeres Glück dahin,/Als so viel ihm der Wahn verleiht,/bis er vom Wahn hinabsinkt?» Schließlich ist man nur Protoplasma, und eines Tages ist man tot.
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