Was am Ende bleibt
und Linguistik in Stanford; sie ist eine elegante, twiggyhafte, weißhaarige Dame ohneerkennbare Smalltalk-Toleranz. Die gesamten achtziger Jahre hindurch suchte sie Orte auf, die sie «erzwungene Übergangszonen» nannte – Orte, an denen Menschen ohne Zugriff aufs Fernsehen und andere Wohlbefinden erzeugende Beschäftigungen zeitweilig festgehalten sind. Sie benutzte öffentliche Nahverkehrsmittel in siebenundzwanzig verschiedenen Städten. Sie schlich auf Flughäfen herum (zumindest bevor es dort CNN gab). Sie ging mit ihrem Notizblock in Buchhandlungen und Seebäder. Jedes Mal, wenn sie Leute «substantielle Werke der Literatur» (also mehr oder weniger die bessere Taschenbuchbelletristik) lesen oder kaufen sah, bat sie sie um einige Minuten ihrer Zeit. Sie besuchte Sommer-Schriftstellertreffen und Creative-Writing-Seminare, um Epheben zu befragen. Sie interviewte Schriftsteller. Vor drei Jahren interviewte sie mich, und vergangenen Sommer aß ich mit ihr in Palo Alto zu Mittag.
Soweit Schriftsteller überhaupt über ihr Publikum nachdenken, stellen wir uns gern ein «allgemeines Publikum» vor – eine große, eklektische Gemeinschaft einigermaßen gebildeter Menschen, die durch hinreichend positive Rezensionen oder hinreichend aggressives Marketing dazu bewogen werden können, sich ein gutes, anspruchsvolles Buch zu gönnen. Wir geben uns richtig Mühe zu ignorieren, dass unter Erwachsenen mit einer ähnlichen Bildung und ähnlich komplizierten Lebensläufen manche viele Romane lesen, andere dagegen wenige oder gar keine.
Heath ist dieser Umstand aufgefallen, und obwohl sie mir gegenüber betonte, dass sie mitnichten jeden in Amerika befragt habe, räumt das Ergebnis ihrer Recherche mit dem Mythos vom allgemeinen Publikum nachhaltig auf. Damit sich ein Mensch dauerhaft für Literatur interessiert, sagte sie, müssten zwei Dinge gegeben sein. Erstens müsste die Angewohnheit, qualitativ hochstehende Literatur zu lesen, in Kindheit und Jugend «stark vorgeprägt» worden sein. Mit anderen Worten, eines oder beide Elternteile müssten anspruchsvolleBücher gelesen und das Kind ermuntert haben, dies ebenfalls zu tun. An der Ostküste stellte Heath diesbezüglich große Schichtenunterschiede fest. Eltern in privilegierten Schichten ermuntern zum Lesen aus einer Haltung heraus, die Louis Auchincloss «Anspruch» nennt: Genauso, wie ein zivilisierter Mensch in der Lage sein sollte, Kaviar und einen guten Burgunder zu schätzen, sollte er in der Lage sein, Gefallen an Henry James zu finden. In anderen Landesteilen ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht von geringerer Bedeutung, insbesondere im protestantischen Mittleren Westen, wo Literatur als eine Art geistige Übung angesehen wird. In Heaths Worten: «Ein Teil der Übung, ein guter Mensch zu sein, besteht darin, die Freizeit nicht leichtfertig zu nutzen. Man muss durch Arbeitsethos
und
weise Nutzung der Mußezeit Rechenschaft über sich ablegen können.» In den hundert Jahren nach dem Bürgerkrieg gab es im Mittleren Westen Tausende kleinstädtischer Literaturgesellschaften, in denen, wie Heath herausfand, die Frau eines Hausmeisters ebenso aktiv war wie eine Arztgattin.
Doch ein lesender Elternteil genügt nicht, um einen lebenslang begierig Lesenden hervorzubringen. Heath zufolge müssen junge Leser auch einen Menschen finden, mit dem sie ihr Interesse teilen können. «Ein Kind, das sich das Lesen angewöhnt, wird zunächst unter der Decke mit einer Taschenlampe lesen», sagte sie. «Wenn die Eltern klug sind, verbieten sie es dem Kind und ermuntern es so dazu. Oder es tun sich zwei Leseratten zusammen, und diese beiden halten das vor anderen geheim. Lesefreundschaften kann man aber auch noch am College schließen. Besonders an der Highschool wird man dafür, Leser zu sein, sozial geächtet. Viele, die als Kinder ohne Austausch gelesen haben, kommen ans College und entdecken auf einmal: ‹Wahnsinn, hier gibt’s ja auch noch andere, die lesen.›»
Während Heath ihre Funde vor mir ausbreitete, erinnerteich mich, wie sehr ich mich gefreut hatte, in der Unterstufe zwei Freunde zu finden, mit denen ich über J.R.R. Tolkien sprechen konnte. Außerdem ging mir durch den Kopf, dass es für mich heute nichts Anziehenderes gibt als eine Frau, die liest. Aber dann fiel mir auf, dass ich Heaths erste Voraussetzung gar nicht erfüllte. Ich sagte ihr, ich könne mich nicht erinnern, dass in meiner Kindheit auch nur einer meiner Eltern je ein Buch gelesen
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