Was aus den Menschen wurde: Meisterwerke der Science Fiction - Mit einem Vorwort von John J. Pierce (German Edition)
trug, dort, wo sich die Unterstadt ans Tageslicht schob. Das allein war schon ungewöhnlich, aber Fomalhaut III war ein ungewöhnlicher und unwirklicher Planet, dessen raues Klima zusammen mit den Schrullen der Menschen die Architekten zu irrwitzigem Design und grotesken Bauten getrieben hat.
Elaine spazierte durch die Stadt, insgeheim verrückt, und war auf der Suche nach kranken Menschen, denen sie helfen konnte. Sie war für diese Aufgabe abgestellt, geprägt, entworfen, geboren, gezüchtet und ausgebildet worden. Aber es gab keine Aufgabe für sie.
Sie war eine intelligente Frau. Ein scharfer Verstand dient dem Wahnsinn ebenso gut wie geistiger Gesundheit – tatsächlich ausgezeichnet. Nie kam es ihr in den Sinn, ihrem Auftrag zu entsagen.
Die Menschen von Fomalhaut III sind, wie die Menschen auf der Menschenheimat Erde auch, fast unterschiedslos schöne Gestalten; nur auf den entlegensten, nahezu unerreichbaren Welten kann es vorkommen, dass die Menschen vom reinen Existenzkampf gezeichnet und hässlich, müde oder kauzig werden. Und Elaine sah nicht viel anders aus als die anderen intelligenten, stattlichen Menschen, die die Straßen bevölkerten. Ihr Haar war schwarz, und sie war groß. Ihre Arme und Beine waren lang, ihr Rumpf kurz. Sie trug das Haar von ihrer hohen, schmalen, geraden Stirn straff nach hinten gekämmt. Ihre Augen waren von einem merkwürdigen, tiefen Blau. Ihr Mund wäre vielleicht schön zu nennen gewesen, doch er lächelte nie, so dass niemand genau sagen konnte, ob er nun hübsch war oder nicht. Ihre Haltung war stolz und aufrecht; aber so war es auch bei jedem anderen. Ihre Lippen wirkten gerade in ihrer Sprachlosigkeit faszinierend, und ihre Augen glitten hin und her und hin und her, wie ein antiker Radarschirm, und hielten Ausschau nach den Kranken, den Bedürftigen, den Getretenen, denen zu helfen ihr einziges Vergnügen war.
Wie konnte sie unglücklich sein? Sie hatte niemals Zeit, glücklich zu sein, und es fiel ihr leicht zu denken, dass Glück etwas war, das am Ende der Kindheit verschwand. Hin und wieder, hier oder da, vielleicht dann, wenn ein Bächlein im Sonnenlicht murmelte oder wenn die Knospen in dem erstaunlichen Frühling Fomalhauts explodierten, wunderte sie sich, dass andere Menschen – Menschen, die unter dem Druck des Alters, ihrer Herkunft, ihres Geschlechtes, ihrer Ausbildung und Karriere ebenso verantwortungsbewusst waren wie sie –, dass diese Menschen glücklich sein sollten, während nur sie allein keine Zeit für das Glück zu haben schien. Aber immer wieder unterdrückte sie diesen Gedanken und schritt über Plätze und Straßen, bis ihre Füße schmerzten, und hielt Ausschau nach einer Arbeit, die es nicht gab.
Der menschliche Leib, der älter ist als die Geschichte und hartnäckiger als die Kultur, besitzt seine eigene Weisheit. Die Körper der Menschen sind ausgestattet mit den überkommenen Listen des Überlebens, so dass Elaine auf Fomalhaut III auch die Fähigkeiten von Ahnen in sich trug, von denen sie nicht einmal etwas wusste – von Ahnen, die in der unvorstellbar weit zurückliegenden Vergangenheit selbst die schreckliche Erde bezwungen hatten. Elaine war verrückt – doch ein Teil ihres Bewusstseins argwöhnte, dass sie verrückt war.
Vielleicht trieb sie diese Weisheit, als sie von der Waterrocky Road zu den hellen Esplanaden der Shopping Bar hinüberging. Ihr Blick fiel auf eine wohl seit langem unbenutzte Tür. Die Roboter konnten die Straße bis dicht an ihre Schwelle reinigen, aber wegen der alten, absonderlichen Bauweise konnten sie nicht direkt unter dem Türbogen kehren und wischen. Eine dünne, hart gewordene Spur aus altem Staub und eingetrockneten Putzmitteln verschloss wie eine Dichtung den Spalt zwischen Tür und Schwelle. Es war offensichtlich, dass sie seit langer, langer Zeit niemand geöffnet hatte.
Die Gesetze der Zivilisation sorgten dafür, dass verbotene Gebiete durch telepathische und optische Warneinrichtungen markiert waren. Die gefährlichsten von ihnen besaßen Roboter- oder Untermenschen-Wächter. Aber alles, was nicht verboten war, war erlaubt. Dennoch hatte Elaine kein Recht, die Tür zu öffnen, doch es bestand auch keine Verpflichtung, es nicht zu tun. Sie öffnete sie …
Aus einer Laune heraus.
Oder zumindest glaubte sie das.
Es war noch ein weiter Weg zu dem »Eine-Hexe-bin-ich«-Motiv, das ihr später in der Ballade unterstellt wurde. Sie war weder außer sich noch verzweifelt, und sie war noch
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