Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
nicht mehr – es war ihm gleichgültig, ob er lebte oder tot war. ›Ich sollte ihn umbringen lassen‹, dachte er ohne Überzeugung. Aber ihn jetzt töten lassen, wo er wehrlos war wie ein Kind? Wozu? Um seine Hände mit dem Blut seines Vaters Sohn zu beflecken? Francesca lebte, und sie gehörte ihm. Er würde nie mehr zulassen, dass man sie ihm entriss.
»Ich bekomme ein weiches Herz«, murmelte er vor sich hin. Er stand auf und ging mit gesenktem Blick im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Bei dem Gedanken an Faisal als neuen König hatte er gemischte Gefühle. Die Heirat mit Francesca hatte ihn den Thron gekostet. Die Familie akzeptierte sie und achtete sie sogar, seit sie ihm einen Sohn geschenkt hatte, aber sie gehörte nach wie vor einer fremden, unbekannten Welt an und war als Gattin des Herrschers unerwünscht. »Francesca …« Schon die Erwähnung ihres Namens rechtfertigte alles, was er für sie geopfert hatte. Sie waren glücklich in Paris. Er ging seinen Geschäften nach, sie kümmerte sich um den kleinen Shariar und den Haushalt. Hatte er das Recht, diese Harmonie zu stören und sie darum zu bitten, nach Riad zurückzugehen? Aber er vermisste die Heimat und seine Familie, ihm fehlten die Wüste, die Ausritte am Roten Meer, die Oase seines Großvaters.
Kamal zog das Jackett an und verließ das Büro. Nachdem er Claudette angewiesen hatte, alle Nachmittagstermine abzusagen, fuhr er nach Hause. Francesca saß auf dem Bett und stillte ihren gemeinsamen Sohn. Er blieb leise stehen und betrachtete sie: Ihr Profil wirkte wie aus weißem Alabaster gemeißelt, das zum Knoten aufgesteckte Haar legte ihren langen, schlanken Hals frei. Sie sprach Spanisch mit dem Kleinen und lächelte.
»Willst du den ganzen Tag da stehenbleiben?«, sagte sie schließlich, ohne sich umzudrehen.
»Woher wusstest du, dass ich in der Tür stehe?«, fragte Kamal und kam näher.
»Ich konnte dich spüren«, lautete ihre Antwort.
Shariar ließ die Brustwarze los und drehte das Köpfchen zu dem Eindringling, der das Idyll mit seiner Mutter störte. Kamal küsste ihn auf die Stirn. Der Kleine hatte alles von ihm: die dunkle Haut, die braunen Locken, das scharfgeschnittene Gesicht, den vollen Mund. Nur die Augen, die waren von seiner Mutter.
Francesca hörte schweigend zu, während Kamal ihr von dem Gespräch mit Faisal berichtete. Ihre Ruhe stand ganz im Gegensatz zu seiner Nervosität. Er war ungewöhnlich gesprächig und schilderte die Vorgänge in einer Ausführlichkeit, die so gar nicht seiner zurückhaltenden Art entsprach.
»Und was hast du auf Faisals Angebot geantwortet?«
»Dass ich nicht nach Riad zurückkehren werde.«
»Es ist meinetwegen, stimmt’s?«, wollte Francesca wissen.
»Du bist zu freiheitsliebend, um mit den Einschränkungen in meinem Land leben zu können. Du würdest es nicht ertragen.«
»Ich leide bei dem Gedanken, dass du gerne dort leben würdest und es meinetwegen nicht tust.«
»Du stehst für mich an erster Stelle, verstehst du das nicht? Vor mir, vor Saudi-Arabien und vor der ganzen Welt. Was muss ich noch tun, damit du das begreifst?«
***
Saud starb fünf Jahre später auf seiner Ägäisinsel an derselben Krankheit, die ihm schon während der letzten Jahre seiner Regentschaft zu schaffen gemacht hatte. Saud war tot, und unter Faisal brach eine Zeit finanziellen Wohlstands und gesellschaftlichen Friedens an, die auf Mäßigung und der Einhaltung der Gesetze des Korans basierte. Es war nicht einfach, die schlechte Finanzlage in den Griff zu bekommen, aber durch die stabilen Erdölpreise und ein vernünftiges Verteilungssystem konnten der Niedergang gebremst und der Bankrott abgewendet werden. Als die Ausgaben die Einnahmen nicht mehr überstiegen, wandte Faisal seine Aufmerksamkeit der inneren Entwicklung des Landes zu, während Ahmed Yamani in seinem Amt als Erdölminister im Ausland die Anerkennung und Bewunderung zurückgewann, die man einst dem großen Abdul Aziz gezollt hatte. In seinen Augen hatte die OPEC nach wie vor keinen entscheidenden politischen Einfluss, und ihre Vorschläge und Maßnahmen führten lediglich zu Spannungen und Verstimmungen auf dem Erdölmarkt. Als Vertreter des Königreichs Saudi-Arabien in der OPEC verhinderte Yamani immer wieder drohende Embargos, die einzige schlagkräftige Waffe, über die das Kartell verfügte. Sein oberstes Ziel war mehr Unabhängigkeit bei der Förderung, Raffinierung, dem Transport und der Verteilung des
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