Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
sich Francesca.
»Tante Zila weiß ganz genau, dass es meine Entscheidung gewesen ist, die Nacht im Hotel zu verbringen. Du kennst die Sitten meines Volkes nicht. Alle hätten neugierig vor der Tür gestanden und darauf gewartet, dass ich meine Manneskraft unter Beweis stelle.«
»In der Heimat meiner Mutter in Sizilien erwartet man, dass der Ehemann am Tag nach der Hochzeit das blutbefleckte Laken aus dem Fenster hängt – aus demselben Grund.«
»Siehst du, wir sind gar nicht so verschieden.«
Sie hatten sich drei Tage nicht gesehen, und nachdem sich die Tür des Hotelzimmers hinter ihnen geschlossen hatte, befiel sie ein Verlangen, das sie, nachdem es gestillt war, erschöpft in die Laken sinken ließ.
»Ich habe meine Mutter heute sehr vermisst«, sagte Francesca später. »Nie hätte ich mir vorstellen können, dass sie bei meiner Hochzeit nicht dabei ist. Und ich hätte mir gewünscht, dass Onkel Fredo mich dir übergeben hätte.«
Die ersten vierzehn Tage der Flitterwochen verbrachten sie in Nizza im Hotel Negresco. Auch dort kannte man Kamal gut, nannte ihn »Hoheit« und folgte ihm in Erwartung seiner bereits bekannten Trinkgelder auf Schritt und Tritt. Sie frühstückten auf der großen Balkonterrasse, vor der sich das endlos blaue Meer ausbreitete. Francesca sog tief die frische Morgenluft ein und ergriff die Hand ihres Mannes. Wenn sie vom Strand zurückkamen, legten sie sich gemeinsam in die riesige runde Badewanne, bis Francesca vor Kälte bibberte.
Wenn Kamal Bekannte traf, stellte er Francesca nur knapp vor, blind vor Eifersucht wegen der Art, wie sie sie ansahen – insbesondere, wenn sie einen Badeanzug trug. Francesca wiederum fielen die vielsagenden Blicke auf, die so manche Frau ihrem Mann zuwarf. Doch Kamal hatte nur Augen für sie, und das bewies er ihr jedes Mal, wenn er ihre Nähe suchte. Ganz abgesehen von der Leidenschaft, die der eine im anderen entfachte, empfanden sie einen tiefen Frieden, wenn sie sich ansahen und anlächelten. Sie waren wie eine Insel, zu der die Außenwelt keinen Zugang hatte. Allerdings folgten ihnen Abenabó und Kader in gebührendem Abstand, die Waffen unter ihren Anzugjacken verborgen.
Von Nizza flogen sie dann nach Sizilien, wo sie ein Auto mieteten, um die Küste entlangzufahren. Sie begannen die Rundreise in Santo Stefano di Camastro, dem Geburtsort von Francescas Vater Vincenzo. Der Ort lag am Meer und schien im Mittelalter stehengeblieben zu sein. Die dunklen, von alten Häusern gesäumten Gässchen, in denen es von Menschen, Ziegenherden und Vespas gleichermaßen wimmelte, wirkten auf Francesca bedrückend und einengend. Sie verstand sofort, warum ihr Vater beschlossen hatte, in Amerika nach neuen Horizonten zu suchen. Es herrschte eine merkwürdige, beklemmende Stimmung. Die Einheimischen warfen den Fremden misstrauische Blicke zu und tuschelten miteinander. Als sie ein Lokal betraten, um etwas zu trinken, wurde es schlagartig still; mehrere Augenpaare folgten ihnen zum Tresen, beobachteten sie, während sie eine Limonade tranken, und sahen ihnen schließlich hinterher, bis sie zur Tür hinaus waren.
An der Amalfiküste, in Sorrent, auf Capri und in Pompeji ließen sie sich von dem einzigartigen Licht bezaubern, das dem Meer seine unbeschreibliche, türkisblaue Farbe verlieh. Die Landschaft wurde bestimmt von bewaldeten Bergen, schroffer Küste und dem Tyrrhenischen Meer. In Neapel aßen sie in der Pizzeria Brandi , wo dem Besitzer zufolge in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Pizza erfunden worden war.
In Rom blieben sie vier Tage. Kamal kannte die Stadt sehr gut und stellte sich als hervorragender Fremdenführer heraus. Im Vatikan überraschte er sie mit Anekdoten über Päpste, Priester, Maler, Bildhauer und Kreuzzüge, von denen Francesca noch nie gehört hatte. Sie warfen Münzen in den Trevibrunnen, besichtigten das Kollosseum und sahen sich die Villa Borghese und den Quirinalspalast an. Als sie auf dem Forum Romanum standen, sagte Kamal: »Du befindest dich mitten im Herzen einer untergegangenen Welt.«
Zwischen Rom und Pisa folgte ein Dörfchen auf das andere, jedes mit seinem eigenen Reiz und einem typischen Gericht, das probiert werden wollte, aber der Schiefe Turm, die Kathedrale und das Baptisterium, die in einer Reihe auf einer weiten Rasenfläche standen, raubten Francesca wirklich den Atem.
Von dort reisten sie nach Portofino weiter, wo sie über eine enge Serpentinenstraße zum Castello di San Giorgio hinauffuhren, einer
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