Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
Vom Netzwerk:
Organe überhaupt erlaubt war, jemanden aus dem Westen zu treffen. Oder ob das nur eine Ausrede für seine doofe, gutgläubige kleine Freundin vom Dorf war.
    Jana lachte an dieser Stelle und sagte: »Vermutlich war es das. Du Schaf.«
    »Dann bin ich wieder nach Hause gefahren. Ohne ihn zu sehen. Und ich kann dir auch genau sagen, wovor ich so eine Angst hatte. Dass er die Tür aufmacht, mich sieht und sagt: ›Was willst du denn hier? Fahr mal lieber wieder nach Neubrandenburg. Ich habe zu tun.‹ Bescheuert, ne?«
    Julius freute sich über meinen Besuch in der Schweriner Kaserne. Jana und ich waren mit einem Bus vom Bahnhof in die Gartenstadt gefahren. Dort standen zwei relativ kleine mehrstöckige Häuser, die von einem Zaun umgeben waren. Ich hatte mir das alles viel größer vorgestellt. Jana ließ mich tatsächlich allein. »Keine zehn Pferde kriegen mich da rein. Noch nicht mal ohne meinen Antrag würde ich da reingehen!«, sagte sie und ging hinunter zum gegenüberliegenden See. Der da still lag, umgeben von kleinen Mehrfamilienhäusern. »Ich füttere die Enten. Lass dir Zeit bei deinem Schäferstündchen. Kannst ihm ja unter dem Tisch einen blasen«, sagte sie. »Womit willst du die Enten füttern?«, fragte ich, und sie sah mich an, als hätte ich etwas ganz Erstaunliches gesagt, und antwortete: »Mir wird schon etwas einfallen.«
    Ich musste an der Wache meinen Ausweis vorzeigen und sagen, wen ich besuchen wollte, und dann wurde mir der Weg zum Besucherzimmer gewiesen. Ich hatte noch nie vorher jemanden bei der Armee besucht. Der Raum war groß und neonhell, bestückt mit quadratischen Tischen, auf denen vergilbte Tischdecken lagen und jeweils ein Aschenbecher stand. An der Wand hing ein Bild von Erich Honecker, das Bild, das überall hing. Auf dem er in Anzug, Schlips und Kragen seitlich aus dem Bild herausguckte ins Irgendwohin. Nicht in die Augen des Betrachters.
    Ich setzte mich an einen leeren Tisch. Es roch dumpf nach Schweiß, Zigaretten und nach Zwiebeln. Neben mir saßen ganze Familien um einen Soldaten herum und einzelne Mädchen, die Händchen mit den Jungen in hellgrüner Uniform hielten. Es standen Kuchen auf den Tischen, Teller mit Broten und kalten Bouletten. Ich hatte ihm drei Schachteln Alte Juwel und eine Tafel Schogetten aus dem »Delikat« mitgebracht. Die stapelte ich vor mir auf. Julius öffnete die Tür zu diesem Wartesaal und trat ohne zu zögern ein. Ich erkannte ihn sofort. Seine Haare waren ganz kurz, und er trug diese grüne runde Polizeimütze auf dem Kopf. Auch er hatte mich gesehen und kam auf mich zu, umarmte mich, ohne mich zu küssen, und setzte sich: »Na, du machst Sachen. Das ist ja eine Überraschung.«
    »Freust du dich?«, fragte ich, und meine Stimme klang ganz hoch.
    »Ja, klar freue ich mich. Was glaubst du denn? Die Sonntage sind unerträglich hier drin. Wenn man keinen Ausgang hat, und den haben wir ja nicht so oft. Wenn ich den allerdings gehabt hätte heute, dann wärst du ganz umsonst gekommen. Aber ich bin ja da.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und griff nach seiner Hand, so wie ich das bei den Mädchen an den Nachbartischen gesehen hatte.
    Und Julius redete ununterbrochen. Dass es jetzt viel besser sei als noch vor ein paar Monaten. Seitdem er in die Küche gewechselt sei, seitdem er vorne in der Essensausgabe stehen würde mit der Kelle in der Hand und diesen Hirnis den Schlag auf den Teller geben würde, und zwar so viel, wie er, Julius, es wolle. Seitdem würden sie ihn in Ruhe lassen und einige von den besonders Doofen seine Nähe sogar suchen, und auch die Entlassungskandidaten würden jetzt von ihm ablassen, und er könne sich darauf konzentrieren, diesen Scheiß hier abzureißen, bis es eben vorbei wäre und er wieder draußen sei und sein Studium beginne in Berlin. Von uns kein Wort.
    Ich hielt seine Hand, und er redete fast gestenlos und sah die meiste Zeit rechts an mir vorbei, wie Honecker aus seinem Bild auch an allen vorbeiguckte, und ich wollte fragen, ob er mich liebt und was das mit dem Brief soll, und erzählte stattdessen von der Schule und dem schriftlichen Russischabitur im vergangenen Februar, und dass jetzt bald die anderen drei schriftlichen Prüfungen kommen würden und mir aber nur vor der in Mathematik bang sei, ein wenig. »Du schaffst das bestimmt«, sagte Julius. »Du schaffst das garantiert. So ein schlaues Mädchen wie du.« Und das erinnerte mich an das »hübsche Mädchen« aus dem Brief, und fast musste ich

Weitere Kostenlose Bücher