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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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ist ja, dass sie sich entscheidet, einen Schritt zurück in der Geschichte zu machen. Dass sie in dieses auf Ausbeutung des Menschen durch den Menschen begründete System zurückkriechen will. Wir haben hier in der Deutschen Demokratischen Republik den Sozialismus aufgebaut und sind stolz darauf, und Jana Fritsche glaubt, wegen ein paar Nietenhosen die Bürger unserer Republik verraten zu müssen. Das können wir nicht zulassen. Nicht so einfach mir nichts, dir nichts.«
    Es war still nach diese Rede. Bohne setzte sich wieder nach hinten. Thomas Gütschow sagte noch monotoner als vorher: »Vielen Dank für diesen Redebeitrag, Genosse Bohnert. Gibt es weitere Meldungen? Dies ist nicht der Fall. Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung. Als Sekretär der Klasse 12b der Erweiterten Oberschule Johann Wolfgang Goethe beantrage ich aus den genannten Gründen den Ausschluss der Jugendfreundin Jana Fritsche aus der Freien Deutschen Jugend. Wer dem Antrag zustimmt, den bitte ich jetzt um das Handzeichen.« Alle Arme gingen nach oben, auch meiner, und Jana sah in die Runde, so als wollte sie sich dieses Bild merken. Sie versuchte ein Lächeln, aber das misslang.
    Wir hatten fast den ganzen Waggon für uns, als wir am Sonntag Richtung Schwerin aufbrachen. Jana hatte ihren kleinen Annett-Rekorder aus dem Rucksack gezogen, und nun sang Suzanne Vega durch den Waggon, in dem außer uns nur ein alter Mann mit einem grünen Filzhut neben der Tür saß und schlief. Der Regen lief die Scheibe hinunter, und wir zuckelten los, und während die letzten Häuser von Neubrandenburg verschwanden, sagte Jana: »Mensch, wann kommt der große Arsch, der dieses Drecknest einfach zuscheißt. Dreieinhalb Stunden bis nach Schwerin. Für hundertfünfzig Kilometer. Das ist so demütigend.« Wir hatten die Füße auf die weinroten Kunstledersitze gelegt, und aus Janas einer olivgrünen Socke guckte der große Zeh hervor. »Marlene on the wall«, sangen wir aus vollem Hals.
    Die Felder lagen still und dunstig. Durch die regennassen Scheiben war kaum ein Mensch zu sehen. Der Zug beschleunigte, um nach einigen Minuten seine Höchstgeschwindigkeit zu erreichen und diese dann lange quietschend wieder abzubremsen und an einem fast leeren Bahnhof zu halten. Reuterstadt Stavenhagen, Malchin, Teterow. »Du hast diesen Knaller seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, und wir zuckeln hier durch die Gegend. Seit einem halben Jahr hast du nicht mehr mit dem geknöpert, geschweige denn mit einem anderen. Mensch, hätte ich das gewusst, ich hätte dich nicht mit in das Forsthaus genommen.«
    »Du hast gesagt, der wäre was für mich.«
    »Ja, für den Sommer. Nicht für das ganze beschissene Leben. Ein halbes Jahr, wie so eine Kriegerwitwe. Und am liebsten würdest du noch ein Jahr warten.«
    »Ich habe ihn ja gesehen, das heißt eigentlich nur gehört«, sagte ich und biss mir auf die Haarspitzen.
    »Sie sprechen in Rätseln, junge Frau. Ist er dir im Traum erschienen oder was?«
    Nur mühsam rückte ich mit der Sprache raus, weil es mir peinlich war, selbst vor Jana. Wie ich zwischen den Jahren nach Berlin gefahren bin und dann mit der U-Bahn bis in den Prenzlauer Berg. Wie ich die Schliemannstraße gesucht habe auf dem Stadtplan, auf dem Westberlin als graue Fläche eingezeichnet war. Ein paar Halbstarke warfen Silvesterknaller nach mir, während ich durch die graue breite Dimitroffstraße lief, und dann fand ich den Namen Herne mit einem Pinsel auf die Tür gemalt im zweiten Stock des Vorderhauses der Schliemannstraße Nummer 16. Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich stand vor der Tür und suchte nach einer Klingel, aber da war nur ein metallener Griff, und während ich noch überlegte, ob das nun die Klingel war oder ob man klopfen sollte, hörte ich Julius’ Stimme in der Wohnung. »Während einer Übung«, sagte er, und dann »nee, keine Ahnung.« Und beim zweiten Satz kam seine Stimme näher, und ich hörte, wie er hinter der Tür vorbeiging. Langsam lief ich eine Treppe runter und blieb dort sitzen. Niemand kam die Treppe hoch oder runter, niemand fragte mich, was ich hier suchte oder zu wem ich wollte. »Wir feiern Silvester zusammen«, hatte Julius gesagt am Telefon, noch Wochen zuvor, und mir dann eine Weihnachtskarte geschrieben, dass das nicht ginge, weil er seinen Bruder treffen wollte. In Berlin. »Der lebt jetzt in Berlin«, schrieb er, und ich wusste natürlich, dass er Westberlin meint, und fragte mich, ob das für Julius als Mitglied der bewaffneten

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