Was gewesen wäre
oder Fraggeltown, wie Jana unsere Heimatstadt nannte, war in den siebziger Jahren mit großen Neubaugebieten zu einer DDR-Bezirkstadt aufgeblasen worden. »Stadt der vier Tore«, schrieb Jana immer auf ihre Briefe und vergaß nie, in Klammern dahinter zu setzen: (Wenn es mal nur vier wären!)
»Julius hat Schluss gemacht«, sagte ich, und die Tränen tropften mir auf das Toastbrot. »Wie das?«, fragte Jana.
»Mit einem Brief. Der ist Sonnabend gekommen.« Ich stand auf, ging in mein Zimmer und holte die eine Seite, beschrieben mit Julius’ schöner, geschwungener Handschrift. »Meine liebe Astrid«, schrieb er da, und »meine Astrid« hatte er noch nie geschrieben. Seit einem halben Jahr war er bei der Bereitschaftspolizei in Schwerin, und er war sich sicher, dass sie ihn dorthin eingezogen hatten, um seiner Mutter eins auszuwischen. »Wenn die mich in der grünen Bullenuniform sieht, kriegt die Anfälle«, hat er zu mir bei seinem ersten Besuch gesagt. Er wollte nicht, dass ich zu seiner Vereidigung nach Schwerin fahre, und er durfte in diesem halben Jahr nur zweimal auf Urlaub fahren. Weihnachten war er bei seiner Mutter in Berlin, aber vor zwei Wochen wollte er mich im Forsthaus treffen und sagte dann doch kurz vorher ab. Nüchtern klang seine Stimme am Telefon. Ich sah ihn vor mir an irgendeinem Münzfernsprecher im schmalen Gang einer Kaserne. Er sagte, seiner Großmutter in Wittenberge gehe es schlecht, und er müsse da hin und für mich sei einfach keine Zeit. »Du musst das verstehen, Assi.« Ich verstand gar nichts.
Jana las den Brief, in dem Julius sich erklärte, vielmehr so tat, als würde er sich meinetwegen trennen. Weil er mir nicht zumuten könne, anderthalb Jahre auf ihn zu warten. Ich sei doch ein junges hübsches Mädchen. »Was für ein Quatsch. Der schreibt wie ein Großvater«, sagte Jana und sah mich an. »Lass den sausen, Assi. Noch ein paar Monate, dann bist du im Vorpraktikum, und da kannst du dich ein Jahr um die jungen Assistenzärzte kümmern oder die sich um dich, und später in Rostock lernst du Hunderte Männer kennen. In deinem Medizinstudium und wer weiß wo.«
»Ich will aber den.«
Jana wischte mit dem letzten Rest Toastbrot die Pfanne sauber und seufzte gespielt. »Dann musst du nach Schwerin. Sonntags ist da immer Besuchszeit. Ein Kumpel von mir aus Stralsund war da auch, letztes Jahr, und hat mich immer genervt mit seinen Briefen, dass ich ihn doch mal besuchen soll. Fahr hin und stell ihn zur Rede, was das soll und so.«
»Der will ja nicht, dass ich ihn besuche. Dann sei das da noch schwerer. Hat er gesagt.«
»Na und. Bla-bla.«
»Kommst du mit? Bitte Jana, bitte, bitte, komm mit!«
»Ich weiß nicht, ob das deinem Julius so wahnsinnig viel hilft, wenn eine Ausreisewillige ihn bei der Asche besucht.«
Janas Vater hatte die Ausreise beantragt. Wir waren gerade ein paar Wochen in der zwölften Klasse, als Jana mir das erzählte. Allein standen wir beide auf dem Schulhof, sie rauchte zwei Zigaretten nacheinander und sagte dann, während sie die Kippe austrat: »Bald platzt hier die Bombe.« Sie zitterte, als ob sie frieren würde.
»Warum?«
»Mein Alter hat die Ausreise beantragt, gestern. Für uns alle. Ich bin ja erst siebzehn. Aber was soll’s, da hat dieser Idiot vielleicht endlich mal was Gutes gemacht.«
»Scheiße, Jana, das kannst du doch nicht machen. Was wird dann aus mir?« Ich hängte mich in ihren Arm und drückte mein Gesicht an ihre Schulter, auch weil mir die Tränen in die Augen geschossen waren.
»Du kommst mich dann besuchen, wenn du sechzig bist. Dann gehen wir ins Café Kranzler. Torte essen«, sagte sie lachend, aber auch ihr lief eine Träne über die Wange.
Janas Vater war ein großer schmaler Mann mit breiten Wangenknochen, die seine kleine runde Brille tief in die Augenhöhlen drückten. Seine buschigen Koteletten rahmten das Gesicht wie Hecken einen Garten. Er arbeitete als Bauingenieur, und Janas Verhältnis zu ihm war gelinde gesagt schlecht. Als Kind hatte er sie oft verprügelt, und auch wenn er das inzwischen sein ließ, weil sich Jana irgendwann mit Händen und Füßen gegen ihn gewehrt hatte, sprachen die beiden kaum miteinander. Sondern zischten, spuckten und schrien einander an. Ich war nicht gern bei Jana zu Hause, auch weil ich spürte, dass sie das nicht mochte. Noch nie hatte sie etwas begrüßt, was ihr Vater tat. »Ich werde offiziell einen auf gute Tochter machen, die nicht ohne ihre Eltern leben kann. Aber wenn wir
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