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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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Sätze, die sich abwechseln, als führten sie einen Dialog, dabei weisen sie doch in die gleiche Richtung. Oder? Er versuchte, das zu verstehen. Nein, sie standen sich vollkommen entgegen. Als er noch wartete, hat Hannah das Warten bereits aufgegeben. So weit ist er nun gekommen bis halb zwölf Uhr, mit seinen Ergebnissen. Er hat die Visite mit Naumann an sich vorbeiziehen lassen, weiß nicht einmal mehr, was Naumann heute wieder Komisches gesagt hat, etwas muss er gesagt haben, denn die Assistenten haben gelacht. Er selbst verharrte mit geschlossenen Augen, als sei er nicht da. Schon nicht mehr da.
    Herr Bili ń ski? Naumann hat ihn angesprochen.
    Aber er hat nicht mit dem Auge gezuckt. Das Telefon hat nicht geklingelt. Bestimmt hat Naumann ihn aufmuntern wollen, bestimmt hat Marita berichtet, was geschehen war.
    Sumpfherzblatt.
    Sie waren einmal auf den Berg gestiegen, er und Agota; Sommer, Anfang der neunziger Jahre, Pius war bei seinem Vater gewesen, der Himmel wolkenlos und die Luft heiß an diesem Tag, als bliese Wüstenwind nach Oberbayern hinein. Stani hatte nicht mitkommen wollen, nicht einmal bis zur Kapelle. Der Anfang von Stanis Ende war das gewesen. Agota mit einem Tuch auf dem Kopf, um die Sonne vom dunklen Haar fernzuhalten, rot, wie der Rock, den sie zu den Bergschuhen trug, in Bauernmanier, was ihr gut stand, so unbäurisch, wie sie wirkte. Sie waren in der Hitze aufgebrochen, spät am Vormittag, und wollten den Waldweg nehmen, hinauf auf die Alm. Agota ging voraus, war schneller, wendiger, ziegenartig erklomm sie den Berg, als sei das nichts, und er hinterher, als sei das was; nur wer langsam geht, sieht, woran er vorbeikommt. Er zählte die Orchideensorten am Wegesrand, es gab einige. Stattliches Knabenkraut, Kugelknabenkraut, Schwarzes Kohlröschen, Rotes Waldvöglein, Grüne Hohlzunge und so fort. Wie kommt er nun darauf? Ach so! Und dann wartete Agota plötzlich auf ihn, wartete, und er ging auf sie zu, sie schaute ihn an, direkt und ganz frei, und er schaute sie an, genauso. Gut war das.
    Bis sie sagte: Manches darf man nicht aufschieben!
    Was meinst du?
    Und dann, sie: Wir haben nur ein Leben. Dieses. Auch du!
    Dann war sie weitergegangen, er nun neben ihr her, bis zur Alm, bis zum Brunnen, um eiskaltes Wasser zu trinken, einzufüllen in ihre Wasserflasche, und an der Alm vorbei, hinauf auf den Gipfel bei sengender Sonne.
    Du meinst Hannah? Hat er sie gefragt, oben auf dem Gipfel.
    Die meine ich, hat Agota gesagt. Und: Ich helfe dir!
    Ungefähr 2000 Meter über dem Meer, ungefähr 1550 Meter über Hannah: Ich helfe dir!
    Wie viel Jahre ist das her? Siebzehn, achtzehn.
    Agota, und jetzt?
    Er will das Telefon mit seinem Blick zu etwas zwingen, aber es gibt keinen Ton von sich.
    Tagsüber stirbst du nicht! Er sagt es in sich hinein, wie zum Trost.
    Agotas Antwort kennt er.
    Er hebt seine Hände hoch, spürt die Anstrengung in den Oberarmmuskeln, weil er die Hände nicht gut genug sehen kann, wenn er nur die Unterarme anhebt, er schaut auf seine Nägel, die sind halbkugelig und glatt, ohne Rillen, was ungewöhnlich ist für alte Menschen, das weiß er. Er streicht mit dem Zeigefinger über den Daumennagel, ja, ganz glatt. Solche Nägel hatte sein Vater auch, genau solche, Stani hatte andere, längliche Nägel, Agota auch, ihre waren brüchig geworden. Vielleicht hat Hannah auch die Nägel von ihrem Vater, von ihm; Janek Bili ń skis Fingernägel, die nicht alt werden. Wiechek, der hatte sich immer die Nägel mit einem Messer geschnitten, zurechtgeschnitzt, saß an Tagen, an denen das Licht am Abend noch hell genug war, feine spitze Sonnenstrahlen kamen durch die Ritzen im Dach, auf seiner Liege, über seine Hände gebeugt, die auf seinen gespreizten Oberschenkeln lagen, und schnitzte, und als ob die Nagelstückchen von Wert seien, versuchte er sie unter sich zu versammeln, zwischen seinen nackten Füßen zu einem Häufchen zu legen, das er dann am liebsten verbrannte.
    Warum machst du das? Hatte er ihn einmal gefragt.
    Damit ich mich nicht in dieser Welt verteile.
    Verrückt bist du!
    Wie Wiech mit den Schultern gezuckt hatte, wie der mit den Schultern zucken konnte! Der mir seinen Schnitznägeln, seinen spitzigen.
    Wenn Hannah diese Nägel hat, diese Kugelnägel, dann haben Hannahs Kinder bestimmt auch solche Nägel, dann blieb etwas von ihm. Etwas blieb! Die wissen das nur nicht. Paula, wie sahen deren Fingernägel aus? Wenn ihm das nun nicht einfiel, dann war das ein Zeichen dafür, dass sie

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