Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
Mit einem Mädchen, das solche Augen hat wie ich. Das war Paula mit ihrer Tochter. Das war Paula mit ihrer Tochter, die meine Augen hat. Das war Paula mit meiner Tochter. Mit unserer Tochter. Und dann: Ich habe ein Kind! Ich habe ein Kind mit Paula. Ich rechnete. Siebzehn muss das Mädchen sein. Siebzehn Jahre alt. Wann das Rieseln nachließ? Als ich bei Agota ankam vielleicht, zu Hause?
Was? Sie sind nicht dorthin gefahren, nach Aichhardt?
Er hört die Empörung in der Stimme der kleinen Schwester.
Nein. Nein, ich weiß nicht, wie lange ich noch durch Bierach spazierte, oder rannte, oder schlich, oder ob ich noch irgendwo saß, aber mit keinem Gedanken dachte ich daran, nach Aichhardt zu fahren. Das kommt mir selbst immer noch merkwürdig vor. Ich brauchte Tage, bis ich glaubte, was ich gesehen hatte. Ich sah sie vor mir: Paula stämmig, drall sogar, und eng verpackt in ein dunkles Kostüm auf dem Markt, die Haare zum Dutt, noch immer wie zwanzig, wie siebzehn Jahre zuvor. Grau geworden, faltiger geworden, aber sonst unverändert Paula. Ihre grüngrauen Augen scharf auf mich gerichtet, als wollte sie mich blenden oder in den Boden stechen, so feindselig, dass sich mein Mund und Verstand verschlossen und ich nichts von dem aussprach, was mich in diesem Augenblick bewegte. Ich stand mit einer dumpfen Stille in den Ohren, die einem Sirren wich, einer schwer zu ertragenden sirrenden Stille, Wörter wanderten durch sie hindurch, die nicht haltmachten, dort, wo es nötig gewesen wäre. Ich erlebte die Unmöglichkeit, zu sprechen. Untrennbar sind Wahrnehmen und Verstehen in der Erinnerung, da wird alles eins. Aber in der Wirklichkeit nicht. Ich sah, ich spürte, aber bevor ich verstand, war alles schon vorbei. Ob das Mädchen nicht gesehen hatte, dass ich Augen hatte wie sie? Warum nicht? Sehr spät waren mir diese Fragen eingefallen. Die Schmalheit des Mädchens, ihre hohen Wangenknochen, dieser schöne Mund. Ihre Stille, so eine melancholische Stille. Ich erzählte es Agota. Ich erzählte es Agota unzählige Male. Bis ich wusste, das Mädchen trug eine Bluse mit Blümchen darauf, einen Rock. Nicht ganz kurze toupierte Haare, eine modische Frisur. Keine Landfrisur. Ich hatte Bilder, ich sah eine Wirklichkeit, die mir geschehen war. Ich konnte sie abspielen wie einen Stummfilm.
Du musst etwas tun, sagte Agota.
Ich sagte, was denn?
Du musst da anrufen.
Ich grübelte, zählte die Dielen in meinem Büro beim Auf-und-ab-Gehen, zählte die Astaugen in den Dielen, schritt untätig und stundenlang durch meine Gedanken. Paula wurde dabei gefährlich, hysterisch, bedrohlich, eine Barrikade, die ich nicht überwinden konnte. Nach Wochen wollte ich sie erklimmen, darüberklettern, versuchte herauszufinden, ob es dort ein Telefon gab, ich bezweifelte das. Aber es gab erstaunlicherweise ein Telefon in diesem Haus. Ich kletterte wochenlang auf der Barrikade herum, hinauf, hinab, vorwärts, rückwärts, und traf dabei auf weitere Hindernisse: Leo, lebte der noch? Wusste er davon? Wenn nicht? Blind hätte er sein müssen. Jeder. Hannah: Das Mädchen, was wusste es? Sie muss mich doch erkannt haben, sie hat doch ihre Augen sehen müssen in meinen! Ich wollte Paula sprechen. Sie selbst. Wir saßen, Agota neben mir, auf dem kleinen Ledersofa, und ich wählte diese Nummer, morgens, ich hatte Angst, das Mädchen an den Apparat zu bekommen, deshalb morgens.
Er sieht Hannah, wie er sie später, das eine Mal, beobachtet hatte. Das strahlende Lächeln eines Mädchens, das ihm so außergewöhnlich vorgekommen war in dieser Stadt. Und dass sie ausgesehen hat wie ein Mädchen aus der Großstadt, und dass der Rock schön aussah an ihr, und die Perlenkette. Wer ihr so eine Perlenkette schenkte? Der Fabrikantensohn, bestimmt. Seine Tochter. Warum er nicht hingegangen war, um sie anzusprechen? Warum, warum? Wie oft er sich das schon gefragt hat. Weil er den Moment nicht stören wollte. Weil er das Mädchen nicht erschrecken wollte. Weil er Paula hasst. Weil er Schuldgefühle hat, trotzdem; dass er Paula alleine gelassen hat. Obwohl sie schwanger war. Aber er hat es doch nicht gewusst. Kann man so etwas ahnen? Außerdem hatte er ja dableiben wollen, bei ihr. Hatte sie es da schon gewusst? Solche Dinge geschahen immer beim letzten Mal.
Und dann, sagt die kleine Schwester: Sie haben angerufen, und dann?
Ich sagte: Paula?
Und sie: Wer ist da?
Ich. Sagte ich.
Schweigen.
Ich, das war bei Paaren immer der eine oder der andere. ICH war ein intimer
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