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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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zum Arzt gehen. Hat Pius, sein Ziehsohn, gesagt.
    Mir tut nichts weh.
    Trotzdem. Du bist so dünn geworden.
    Das kommt vom Alter.
    Bitte, geh!
    Irgendwann ist es vorbei. Das kommt. Der Tod ist einer, der zeigt sich auch an den lauesten Sommerabenden. Plötzlich ziehst du ein Hemd über das T-Shirt und über das Hemd einen warmen Pullover und darüber den Mantel und den Schal. Milde Luft, dreiundzwanzig Grad Celsius, und du hast keine Grippe. In der Blase wütet der Krebs und dein Spaziergang ist eine Runde ums Haus.
    Die Augen fallen ihm zu, er krallt die Hände ineinander, so dass er die Fingernägel in der Haut spürt, die harten dicken Nägel, die weh tun in der weichen Haut; er spürt sich. Der Hund kommt wieder, er kennt ihn schon, sein Begleiter, sein Bewacher, das Tier an seiner Seite. Er bellt nicht, schnappt, er beißt die kleine Schwester ins Bein, er zerrt daran. Bili ń ski lacht. Marita schüttelt sich, nein, sie schüttelt nur den Kopf. Er öffnet die Augen. Natürlich ist da kein Hund, die kleine Schwester sitzt über einem Buch. Er hört die Infusion, sie rauscht, aber das kann nicht sein. Es ist das Blut in seinem Kopf, als schösse zu viel Blut zu schnell durch ihn hindurch. Vielleicht stirbt man so? Wenn das Blut das Tempo erhöht und den Weg nach draußen sucht, durch ihn hindurch, aus ihm hinaus, und ihn findet, diesen Weg ins Nichts, dann ist es aus.
    Was lesen Sie, fragt Bili ń ski, er fragt das nicht, weil er es wissen will, nur gegen die Angst ist diese Frage gut.
    Ihr Blumenbuch.
    Er lacht. Das kann man nur anschauen, sagt er.
    Und lernen, die kleine Schwester grinst.
    Er stirbt nicht. Nicht jetzt. Kleines Mädesüß. Die Rosengewächse fallen ihm ein. Echtes Mädesüß. Dabei sehen sie gar nicht aus wie die anderen ihrer Gattung. Brombeere, Kratzbeere, Hundsrose und so weiter. Das Gedächtnis macht merkwürdige Schlenker. Bachnelkenwurz. Er denkt die Pflanzen, er sieht sie nicht, er kennt das, es sind Wörter gegen die Angst, es ist eine ganze Stoffsammlung. Entweder es gibt etwas zu zählen, oder Wörter: Ketten, Folgen.
    Was lernen Sie? Fragt er.
    Pollen sind männlicher Blütenstaub, wussten Sie das? Und dass jeder Teil einer Pflanze, der eine bestimmte Funktion erfüllt, ein Organ ist, das wusste ich auch nicht, sagt sie.
    Und wie erwartungsvoll sie schaut. Er hat das Glossar in der Blütenpflanzen-Enzyklopädie lange nicht gelesen, er betrachtet nur die Pflanzenkarten, studiert meistens die spezifischen Merkmale, etwa wie sich Klippen-Leimkraut von Taubenkropf-Leimkraut unterscheidet, und die Zeichnungen.
    Ich weiß auch nicht alles, sagt er.
    Zum Glück, antwortet die kleine Schwester.
    Manchmal ist sie ein Mädchen. Nicht dreißig Jahre alt, denkt er. Vielleicht neunzehn, im Gesicht, in ihren Bewegungen, in ihrem Spiel. In ihrer Sturheit auch. Oder? Er weiß nicht, wie neunzehnjährige Mädchen sind. Er kannte nie eines. Nur eine hat er gesehen, einmal, aber darüber kann er nicht mit ihr sprechen. Noch nicht?
    Als er neunzehn war, kannte er Paula, und die war sechsundzwanzig und gar kein Mädchen.
    Als ich neunzehn war, sagt Bili ń ski, war ich schon in meinem zweiten Leben.
    Wie kommen Sie jetzt auf neunzehn?
    Weil Sie so ausschauen manchmal. Sagt er.
    Er weiß, was nun passiert: Sie verschränkt die Arme über der Brust, legt das eine Bein über das andere und zwängt den Rist des Fußes hinter die Wade des untergelegten Beins, jenes, mit dem sie sich auf dem Boden abstützt. Eine halbakrobatische Übung. So sitzt sie wie ein halber Mensch auf dem Stuhl. Dabei lächelt sie ihr Mädchenlächeln. Sie mag es nicht, wenn er so etwas sagt, und er macht es manchmal trotzdem. Oder extra. Der Junge fällt ihm ein, der er plötzlich wieder geworden war, als alles vorbei war, als er plötzlich wieder so etwas wie Familie hatte und Onkel Stani ihm half, ein neues Leben zu finden. So lange hatte er die Enyklopädie schon.
    Onkel Stani, der hat mich gefunden in Aichhardt, nachdem der Krieg vorbei war. Er war der große Bruder meiner Mutter. Noch bevor alles richtig losgegangen war, ist er schon nach Deutschland gekommen. Er hat Autos gebaut. Sagt Bili ń ski. Können Sie noch bleiben, ein bisschen?
    Die kleine Schwester nickt.
    Er weiß, manchmal erzählt er zuerst nur, weil sie da ist; geht sie hinaus, erzählt er jedoch weiter, für sich, oder für seine Erinnerung. Aber ohne sie fängt er gar nicht an zu erzählen. Etwas anderes passiert dann in seinem Kopf. Er weiß nicht einmal, ob es

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