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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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einen Ton hat. Wahrscheinlich nicht. Man sieht ja auch nichts. Vielleicht erzählt er sich nur Bilder, vielleicht sieht er nur einen Film, darin kommt er selbst vor. Er ist die Hauptperson.
    Das wollte ich auch, Autos bauen. Schließlich wurden es Häuser. Sagt er.
    Die kleine Schwester lacht. Auch gut, sagt sie.
    Sie ist wieder ein zweibeiniges Wesen geworden.
    Wie lange Onkel Stani gebraucht hat, mich aus der Sichtweite seines Hauses zu bringen. Da war ich zweiundzwanzig. In meinem dritten Leben. Als könnte das Haus nicht mehr da sein, wenn ich wiederkäme, oder noch viel schlimmer, Onkel Stani verschwunden sein. Wir haben geübt; monatelang. Ich lief alleine zum Milchholen. Rannte hin und lief nur wegen der vollen Kanne etwas langsamer zurück. Rannte zum Brotkaufen und mit dem Brotlaib in der Hand nach Hause, als müßte ich einen Staffellauf gewinnen. Zum Postamt im Nachbarsdorf, nicht ganz drei Kilometer entfernt, brauchte man mit dem Fahrrad zwanzig Minuten für Hin- und Rückweg, wenn man trainiert war, das war ich; und in Seelennot war ich auch, also brauchte ich fünf Minuten weniger. Onkel Stani zwang mir Abstand auf, immer längere Distanzen. Zwischenzeiten, die sich vergrößerten. Ich, alleine zu Hause, weil Stani ohne mich in der Stadt Erledigungen machte. Ich, einen Abend, eine Nacht, einen Vormittag, alleine. Wie ein Tier lauschte, lauerte ich auf die Geräusche um mich herum, jene aus dem Keller, aus dem Dachgebälk, jene aus dem Garten und die von der Straße. Jemand könnte kommen, aber wer? Der Krieg war vorbei. Ich war in Sicherheit. Aber nichts war vorbei. Alles kam immer wieder. Ich strich im Haus herum, hangelte mich durch Buchtitel, Buchanfänge, Seiten, blieb nirgendwo für längere Zeit hängen, bis ich Stanis Blütenpflanzen-Enzyklopädie fand. Diese. Nein, die gleiche. Er hat mir eine geschenkt, dann. So hat diese Sache mit den Pflanzen angefangen, ganz genau. Sagt er.
    Seine Frau, Agota, wie sie einmal sagte: Seit wann hast du das? Sie meinte die Besessenheit, sich mit den Pflanzen auszukennen. – Als hätte er eine Krankheit.
    Ich lernte zuerst das Glossar auswendig, das Lexikon, wie Sie, sagt er zu Marita. Aber alphabetisch: Achäne – Einsamige Nussfrucht der Korbblütler und der Doldenblütler. Achselständig – Aus der Blattachsel eines Laub- oder Hochblattes entspringend. Und so weiter. Weiß ich noch. Ich kam weit: bis monözisch – Siehe einhäusig.
    Deshalb wussten Sie das nicht mehr mit den Pollen, sagt Marita.
    Ich weiß das schon noch.
    Und mit den Organen?
    Das auch. Ist wie bei den Menschen.
    Sie stutzt, sie lacht, sie fasst sich an die Stirn: Stimmt! Ihre helle Stimme.
    Er sagt nicht, wie gut sie ihm gefällt in so einem Moment, er sagt nicht, wie sehr sie ihn an etwas erinnert, woran er sich gar nicht erinnern konnte, unmöglich war das. Und doch.
    Er sagt: »Einhäusig« konnte ich bereits erklären, da knatterte der Käfer die Straße herunter. Ich starrte auf den Hof und freute mich, wie ein sich verlassen geglaubter Hund, als Stani wiederkam. Von jenem Tag an, als ich mich für das Abitur angemeldet hatte, ich hatte ja nichts, Abschluss Mittelschule, er war mir anerkannt worden, von jenem Tag an gewöhnte mir Stani das Alleinsein an. Abitur musst du haben, bist ein schlauer Bub, sagte Stani, wie der alte Leo, aber ich kann dabei nicht neben dir sitzen. Er hört den Klang seiner Stimme, den Akzent, der nie verging, so gut der Onkel auch Deutsch sprechen mochte. Schlauer Bub, wiederholt er. Onkel Stani hat nach einer Gewöhnungsstrategie gehandelt. Nicht Abgewöhnung, nicht Entwöhnung. Gewöhnung ans Wegsein von zu Hause. Als Antwort auf die Kastaniengeschichte: Nämlich einmal, sagt Bili ń ski – hören Sie noch zu? –, da hat der Onkel mich vor der Schulbehörde aus seinem VW Käfer aussteigen lassen wollen.
    Ich bleibe hier sitzen und warte auf dich, hat er gesagt.
    Der Parkplatz, eine Fotografie in meinem Gedächtnis, der Parkplatz mit aschgrauem Käfer war umgeben von Kastanien auf müden Erdstreifen, schrumpelblättrige Bäume in Brauntönen schon, Herbst, und noch während wir verhandelten, ich bettelte, dass Stani mit mir zur Schulbehörde kommt, da knallte es auf dem Dach.
    Und Stani sagte, nein, das kannst du alleine.
    Bomben fielen aufs Auto und waren Kastanien. Kastanien schlugen aufs Blech, rollten übers Dach, prasselten herunter. Und wie die Angst kam, und wie ich befürchtete, dass Stani aus Sorge um sein Auto wegführe, wenn immer mehr

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