Was ist mit unseren Jungs los
spezifische Ausdrücke zu identifizieren. Wir wollen herausfinden, ob er oder sie der gleichen Subgruppe, einer vertrauten Profession, Firma oder einem ähnlichen Milieu angehört. Worte werden herausgepickt. Spricht jemand von »aufgleisen«, »Plattform« und »Form 2000«, dann handelt es sich um einen Angehörigen der Schweizer Bahn, spricht jemand jedoch von »Equity«, »Hedge Funds« und kennt den neuesten Nickei-Index, dann haben wir ihn als Banker identifiziert. Braucht jemand die Worte »voll easy«, »geil« und »give me five«, dann gehört er einer jüngeren Altersgruppe an. Solche Kernworte dienen der Identifizierung. Auf Menschen, mit denen sich keine Übereinstimmungen oder Vertrautheiten ergeben, reagieren wir misstrauisch. Begrüßungsworte, Kernworte, Dialekte und Sprachen dienen dem Selbstschutz. Die Kultur regelt durch Codes, die wir uns während der Kindheit oder einer Assimilationsphase aneignen, unser Zusammenleben und leistet einen Beitrag zur Gewaltprävention. Familien, soziale Kreise, doch auch Nationen helfen uns, im privaten und öffentlichen Bereich unsere Aggressionen zu zügeln.
Wenn sich Menschen aus verschiedenen Kulturen begegnen, dann entstehen noch größere Unsicherheiten. Da man nicht auf ein vertrautes Erkennungs- und Begrüßungsritual zurückgreifen kann, ist man sich selber ausgeliefert und muss die Begegnung selber bewältigen. Wenn man in den Schweizer Bergen auf einen Wanderer trifft, der auf das obligate »Grüezi« nicht reagiert, dann sind wir als Schweizer ein bisschen irritiert. Meistens nehmen wir an, dass es sich um einen unwissenden Ausländer handelt. Wir entschuldigen sein Fehlverhalten, weil wir ihn einer Kultur zuordnen, die andere Sittenkennt. Wir wissen vielleicht auch, dass man sich in angelsächsischen Ländern selten die Hand gibt, weniger küsst und Lateinamerikaner oder Araber sich umarmen. Begegnungen mit Angehörigen dieser Kulturen lösen keine Irritationen aus, weil wir innerlich vorbereitet sind und die Bandbreite möglicher Verhaltensweisen kennen. Schwieriger wird es, wenn eine Begrüßungsart grundsätzlich anders verläuft und uns unbekannt ist.
Ein Japaner wurde von einem Schweizer zum Abendessen eingeladen. Die Gastgeber begrüßten ihn und er verneigte sich höflich. Bevor man zu Tisch ging, fragten sie ihren asiatischen Gast, ob er das Badezimmer benützen wolle. Der Japaner nickte freundlich und verschwand. Die Gastgeber und weitere Gäste warteten bei Tisch. Fünf, zehn Minuten pflegte man Small Talk und geduldete sich mit dem Auftischen des Essens. Als es nach fünfzehn Minuten immer noch kein Zeichen des Japaners gab und das Essen kalt zu werden drohte, schlich die Gastgeberin zur Badezimmertüre. Sie hörte plätschernde Geräusche und Dampf kam aus den Türspalten. Ihr asiatischer Gast war dabei, ein ausgiebiges Bad zu nehmen.
Oft reagieren wir bei Begegnungen mit Menschen aus anderen Kulturen überschwänglich . Wir sprechen von Dialog, interkultureller Kommunikation und drücken unsere Freude und Bewunderung für das Essen, die Tänze oder die Kleidung der anderen Kultur aus. Wir betonen, dass wir tolerant sind und sicher kulturelle Vielfalt schätzen. Interessanterweise äußern wir oft mehr Gefühle und verhalten uns großzügiger als gewohnt. »Es freut mich riesig, mit Ihnen einen vorurteilslosen Dialog zu führen und ich schäme mich für die Fremdenfeindlichkeit einiger meiner Landsleute!«, verkündete eine Kulturbeauftragte an einem »Fest der Kulturen« einer mittelgroßen Stadt im Schweizer Mittelland. Das Fest hatte die Stadtbehörde organisiert und bezahlt. Eingeladen waren ausländische Kulturvereine und einige Schweizer. Ein Teilnehmer pries den Familiensinnder Türken und ein anderer behauptete, nur Jamaikaner hätten wirklich einen Sinn für Rhythmen. Die Schweizer Teilnehmer lächelten, lobten das Essen, die Musik und gaben sich sichtlich Mühe, offen und tolerant zu wirken. Kein Wort wurde über die unterschiedlichen Vorstellungen zu Erziehung, die Rechte der Frau oder über die Bedeutung der Familienehre gesprochen. Man verbrüderte sich beim gemeinsamen Essen und lebte für kurze Zeit in der Vorstellung, dass kulturelle Unterschiede überbrückbar seien, wenn wir einander freundlich und wohlwollend begegnen. Dieses Verhalten ist verbreitet und nachvollziehbar. Wenn Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammentreffen und gemeinsame Annäherungs- oder Begrüßungsrituale fehlen, dann flüchtet man in
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