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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Interesses und all meiner Bemühungen blieben die Kinder von Narcisse Pelletier für mich schemenhaft und gesichtslos, als wären sie in einem Sandsturm verloren gegangen. Irgendwann begriff ich, dass sie auch namenlos waren – die Namen, die ihnen ihr Vater in der Sprache der Wilden gegeben hatte, verschwieg dieser mir. Wieder galt es für mich, an seiner statt zu handeln und ihnen, wenn auch keine Taufe, so doch eine Identität zu geben.
    Für das Mädchen wählte ich Eugénie: Diese Entscheidung verstand sich von selbst. Bei dem Jungen zögerte ich, bevor mir Charles einfiel – zu Ehren von Charles Darwin, einem britischen Gelehrten, dessen revolutionäre Thesen ich erst kürzlich entdeckt hatte. Der zweite Vorname wird jeweils der meiner geliebten Schwester und meines geliebten Bruders sein, womit ich die mögliche Patenschaft der beiden vorwegnehme.
    Sie benötigten ein Geburtsdatum. Da sich ihr Aussehen vermutlich im Augenblick der Trennung in Narcisse’ Erinnerung eingebrannthatte, errechnete ich daraus die Geburtsjahre 1853 und 1857. Die Geburtstage wählte ich beliebig. Für Charles-Louis wurde es der 2. Dezember, um diesem königlich besetzten Vornamen jede politische Zweideutigkeit zu nehmen. Für seine Schwester wählte ich den Tag meiner ersten Begegnung mit dem Vater in Sydney, den 1. März 1861.
    Charles-Louis Pelletier, geboren am 2. Dezember 1853 im Nordosten Australiens, und Eugénie-Charlotte Pelletier, in der gleichen Gegend am 1. März 1857 geboren, sind die Kinder von Narcisse Pelletier, geboren am 13. Mai 1825 in Saint-Gilles-sur-Vie, und einer Wilden. Ihr Vater setzte ein Kreuz unter das von mir erstellte Schreiben für den kaiserlichen Beamten in La Rochelle, um die beiden Kinder in das Personenstandsregister eintragen zu lassen.
    Seit nunmehr sechs Jahren ist Narcisse Pelletier in die Welt der Weißen zurückgekehrt, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an jene Geschichte zurückdenke. Sie verursacht kein Mitleid mehr in mir, doch mein Mitgefühl für ihn ist nicht verschwunden. Sein Schicksal ist furchtbar, doch darf ein Wissenschaftler nicht aus schlichtem Entsetzen oder Erbarmen aufgeben.
    Ich hoffe, er ist jetzt glücklich. Und bereits während ich Hoffnung ausspreche, muss ich gestehen, dass er es seit seiner Rückkehr nicht mehr oft gewesen sein kann. War es ihm gelungen, sein Glück bei den Wilden zu finden, trotz Leid und Entbehrungen? Ich kann heute eine überraschende Hypothese dazu aufstellen.
    Niemals werden wir erfahren, wie der Matrose Narcisse Pelletier, damals achtzehn Jahre alt, ein Wilder wurde. Ich habe zu begreifen versucht, wie Narcisse Pelletier im Alter von sechsunddreißig Jahren wieder zum Weißen wurde: wie er sich wieder unsere Lebensgewohnheiten und Sprache angeeignet hat; wie sich verschiedene Elemente neu zusammengefügt haben, die seine derzeitige Persönlichkeitausmachen; warum er so gut wie nie über sein Leben in Australien Auskunft gibt.
    Lange hatten diese Überlegungen keine Richtung. Es gelang mir nicht, seine Verhaltensweisen zu definieren und ihnen Sinn zu geben. Blieb mir also nur die Wahl zwischen Anekdote und Chaos?
    Nach und nach begriff ich, dass ich mich von Narcisse Pelletier loslösen musste, um mich ihm erneut und besser anzunähern. Und weil die Wissenschaft mir kein Werkzeug an die Hand gibt, um diese Geschichte zu begreifen, musste ich mir selbst eines schaffen – und bereit sein, die Grundlagen für eine neue Wissenschaft zu legen.
    Nur eine übergreifende Wissenschaft kann all das verstreute Wissen über den Menschen vereinen. In letzter Zeit sind neue Begriffe aufgetaucht: Soziologie, Ethnologie, Psychologie und Anthropologie. Diese Wissenschaften sind wertvoll und haben eine große Zukunft vor sich. Sie werden eine sinnvolle Ergänzung zu dem sein, was uns Geografie, Ethik, Pädagogik, Grammatik, Politik und vor allem die Medizin lehren. In allen diesen Wissenschaften geht es um den Menschen inmitten seinesgleichen. Doch sie alle bleiben isoliert für sich, kümmern sich nicht um die anderen, hören nicht auf sie und weigern sich, von den anderen zu lernen.
    Ich sehe sie mittlerweile als einzelne Kapellen, die zusammen eine riesige Kathedrale bilden, deren Architektur ich erahne. Nach langem Nachdenken habe ich für diese übergreifende Wissenschaft zum Menschen und aller Menschen einen Namen gefunden: Adamologie.
    Ich entwerfe heute folgendes Theorem: Alle Wissenschaften, die sich mit dem Menschen befassen, gehorchen

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