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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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weiteres Indiz bewiesen? Das eine Stoffband genügte.
    Wirklich? Wozu genügte es? Er wusste nicht mehr, worauf er hoffen sollte. Alles war kompliziert, all seine Überlegungen waren so unbeständig, aber sollte er deshalb einfach aufhören nachzudenken? Um zu überleben, so wie er es sich vorgenommen hatte, durfte er nichts übersehen.
    Falls der Mann mit dem Pferdeschwanz mit Besitzern von Baumwollbändern in Kontakt stand, sei es auch noch so indirekt, würde er sich eines Tages wieder in deren Nähe begeben. Sollte Narcisse nicht lieber bei ihm bleiben als beim Stamm? Doch der Stamm hielt sich wiederum an Stränden auf, und das konnte Rettung bedeuten. Wie sollte er das wissen? Wofür sollte er sich entscheiden?
    Nach der Ruhepause saß der Mann mit dem Pferdeschwanz in angeregter Diskussion mit Kermerac beisammen. Narcisse ging auf ihn zu, hielt aber Abstand, damit die Alte sich nicht wieder einmischte, und sagte dann in einem bestimmten Tonfall drei Mal zu ihm:
    «Ich heiße Narcisse Pelletier und bin Matrose auf der Saint-Paul.»
    Seine Hautfarbe, Körpergröße, der Klang seiner Sprache, die so fremd war, sein Auftauchen am Strand, von dem die anderen ihm sicher erzählt hatten … Begriff der andere denn nicht? Wie konnte er ihn nicht verstehen? Narcisse fuhr sich immer wieder mit der Handüber den Nacken, um dem anderen begreiflich zu machen, dass dessen Schmuckband und er in enger Beziehung zueinander standen. Der Mann mit dem Pferdeschwanz und Kermerac sahen ihm aufmerksam zu, zeigten aber keinerlei Reaktion, und als Narcisse sich enttäuscht abwandte, nahmen sie ihr Gespräch wieder auf.
    Am Ende des Nachmittags versammelten sich ungefähr zwanzig junge Leute aus beiden Gruppen. Während sie einen kurzen Refrain sangen, ließen sie einen Stein von einem zum anderen wandern, und Narcisse bemerkte, dass sie dabei komplexen verbindlichen Regeln folgten. Immer wieder wurde das Weiterreichen des Steins unterbrochen, und der Jugendliche, der ihn zuletzt in der Hand hielt, machte den enttäuschten Eindruck eines Verlierers. Narcisse versuchte nicht einmal, die Spielregeln zu begreifen, falls es sich überhaupt um ein Spiel handelte. Er hätte gerne mitgespielt. Endlich eine Abwechslung! In diesem Augenblick wurde er sich der erdrückenden Langeweile bewusst, zu der er verdammt war, weil er ihre Sprache nicht verstand. Vielleicht sollte er sich einfach in ihre Mitte setzen, den Stein entgegennehmen und ihn an seinen Nachbarn weiterreichen, einfach wie ein Affe das nachahmen, was er bei den anderen sah, ohne zu begreifen, planlos, freudlos und ohne ein Wort zu wechseln … Aber wozu sollte das gut sein?
    Landstreicher stieß zur Gruppe der Jugendlichen und sprach in autoritärem und gesetztem Tonfall eines der Mädchen an, und zwar sehr laut, damit es auch alle hörten. Nach seiner Ankündigung oder Mitteilung unterbrachen die jungen Leute nach und nach ihr Spiel, entfernten sich schweigend und schlurfend und ließen nur ihn und das Mädchen zurück, das er angesprochen hatte. Als auch sie sich entfernen wollte und dabei, ohne ihn aus den Augen zu lassen, rückwärtsging, griff er nach ihr, fasste sie grob beim Handgelenk und zwang sie, ihn anzusehen. Seine Absichten waren eindeutig.
    Narcisse war bereits Zeuge gewesen, wenn Jugendliche miteinander anbandelten, voreinander flüchteten oder auswichen, doch niemals hatte er derart eindeutige und brutale Gesten gesehen. Das Mädchen sagte etwas. Landstreicher schlug ihr so hart ins Gesicht, dass sie in den Sand fiel. Als sie aufstehen wollte, warf er sich auf sie, sie verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Als sie sich wehrte, schlug er erneut zu. Es gelang ihr auszuweichen, indem sie sich auf die Seite rollte, doch er hielt sie fest, drückte sie mit seinem ganzen Körpergewicht zu Boden und schlug sie erneut. Zwar schrie oder protestierte sie nicht, doch sie versuchte, ihrem Angreifer weiterhin zu entkommen. Mit der linken Hand und dem Knie schob Landstreicher ihre Schenkel auseinander, streckte sich auf ihr aus und vergewaltigte sie.
    Narcisse’ erster Impuls war, dem Opfer zu Hilfe zu eilen. Wie konnte er ein Verbrechen hinnehmen, das sich vor seinen Augen, nur wenige Schritte von ihm entfernt, ereignete? Und die Vorstellung, Landstreicher endlich eins draufzugeben, sagte ihm durchaus zu.
    Bevor er losrannte, sah er sich um. Die Frauen unterhielten sich weiter. Die Männer hatten ihre Beschäftigungen unterbrochen und betrachteten die Szene, ohne

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