Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung
Claude besonders schätze, ist, dass sie brillant lästern kann. Von den Kiwis hat sie das kaum.
»Hast du das gesehen?« Claude zieht eine Augenbraue hoch, während sie die Dampfdüse abwischt, und verspritzt ein wenig verbales Gift in die Richtung von zwei Müttern in engen Röhrenjeans, die ihren Kleinkindern aufgeschäumte Milch bestellen. »Alle küssen sich neuerdings auf den Mund. Was für eine Unsitte.«
Jetzt sehe ich es auch: Mmma-mah, Mmm-mah. Als Europäerin habe ich jahrelange lockere Lippenberührungserfahrung. Aber wie viel neumodische Intimität kann dieses Land auf die Schnelle verkraften? Claude stimmt mir zu.
»Was wird aus den alten Traditionen wie unserem verkrampften Hallo?« Sie schüttelt den Kopf. Mit dem Begrüßungsritual habe ich mich auch schon rumgeplagt. Ich weiß nie, wie nah man sich treten soll. Anfassen oder lieber nicht? Händeschütteln – so selten es denn vorkommt – ist kompliziert genug. Nur ein Mann streckt die Hand aus, und auch nur, wenn er sich zum ersten Mal vorstellt. Kurzer Griff, Blick in die Augen, zweimal runter, loslassen. Eine Alternative ist der leichte Klaps auf den Unterarm. Kein Speichel im Spiel und immer noch ein halber Meter Abstand gewahrt.
Irokesen-Liam schwebt gerade mit zwei Tässchen davon. Claude gießt Milch in einen Krug. In mir hat sie eine brave Nachhilfeschülerin.
»Seit Generationen sind wir bestens damit zurechtgekommen, uns einmal quer über die Schafweide zuzuwinken. Man hebt im Vorbeifahren nur kurz den Finger vom Lenkrad.« Sie imitiert einen starken Southland-Akzent: »›Alles okay bei mir, die Milchpreise steigen, morgen soll’s regnen.‹ Zeichensprache. Mehr muss nicht sein. Ein kurzer Kinnschwenker geht auch.«
»Und wenn der Farmer mit einem Finger so viel ausdrückt«, werfe ich ein, »was können dann erst seine anderen Körperteile sagen?«
Wahrscheinlich interessieren Claude diese Körperteile nicht so sehr. Sie räumt meine Tasse vom Tresen weg und seufzt.
»Mit dem Küssen gehen doch all diese Feinheiten verloren. Elende Kulturbanausen.«
Als ich gehen will, fragt sie mich nach dem Zeitunterschied zwischen Neuseeland und Europa.
»Zwölf Stunden«, sage ich. »Im Winter aber weniger.«
»Falsch. In London ist es ein Uhr, und hier ist es 1987.«
Sie grinst. Liam tut, als habe er sie nicht gehört. Wenn Claude nicht so rattencool wäre, könnte sie sich solche Witzchen kaum erlauben. Auf ihre Fotos bin ich gespannt.
Im Hafen krache ich mit dem Auto fast in eine Kreuzung zwischen Gabelstapler und Mondfahrzeug. Mit quietschenden Bremsen reiße ich das Steuer herum. Das war knapp. Ich hatte das blinkende und piepende Fahrzeug zwischen all den aufgestapelten Überseecontainern nicht gesehen, weil ich mit einem Spontananflug von Heimweh auf den Schriftzug ›Hamburg Süd‹ gestarrt habe. Aber der Gabelstapler hatte eindeutig Vorfahrt. Zum Glück ist nichts passiert. Sonst wäre ich jetzt unter dreißig Kubikmetern ›Hamburg Süd‹ begraben.
»Sorry!«, rufe ich dem Fahrer zu und lasse zerknirscht mein Fenster herunter. Was in solchen Situationen in meiner alten Heimat üblicherweise folgt, ist klar: Ein wütendes »Mensch, pass doch auf!« oder zumindest entsetztes Kopfschütteln, mit ganz viel »ts, ts, ts«. Gerne wird auch ausgestiegen und vorwurfsvoll inspiziert, ob da nicht doch ein winzig kleiner, versicherungsfälliger Kratzer an der Stoßstange ist. Nicht so beim Gabelstapelfahrer. Er nimmt meine Entschuldigung freundlich nickend zur Kenntnis und hebt die Hand zum Gruß. ›No worries‹, sagen seine Augen. ›She’ll be right. Good as gold. Sweet as.‹ Er lächelt und fährt weiter – alles halb so wild. Ich werde noch ein großer Fan der einheimischen Zeichensprache.
Vor unserem verplombten Container warte ich auf den Insekteninspektor. Genauer, den Fumigator. Der Fumigator ist für den Zoll, was der Terminator für Arnold Schwarzenegger war: die beste Ausrede, sich ein Kampfkostüm überstreifen zu dürfen. Kostüme spielen in Christchurch eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Der Fumigator trägt einen Schutzanzug aus Plastik, der aussieht wie ein aufgeblasenes Ganzkörperkondom. Schließlich könnte ja irgendwo in den Untiefen unseres Hausrats eine Giftgasattacke drohen. Er hat eine überdimensionale Stahlschere dabei, mit der er die Plombe knackt. Die schweren Stahltüren öffnen sich. Da sind sie endlich – all die ollen Ikea-Regale, Bücherkisten, Papierkörbe, Teppiche, Kinderroller,
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