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Was sie nicht weiss

Was sie nicht weiss

Titel: Was sie nicht weiss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone van Der Vlugt
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wir!«
    »In Ordnung, ich bleibe, wo ich bin. Ich möchte nur mit Ihnen reden.«
    Der Größe nach dürfte der Junge acht, neun Jahre alt sein. Er hat sich bisher noch nicht umgesehen. Mit gesenktem Kopf steht er da und schwankt leicht, so als schliefe er halb. Der Vater – Lois geht zumindest davon aus, dass es sich um Vater und Sohn handelt – hält ihn an der Hand.
    Fred hat sich den beiden im Schutz des Nebels von der Seite ein wenig genähert. Lois sucht seinen Blick und macht eine Kopfbewegung zu dem Kind hin.
    Er nickt.
    »Was ist geschehen? Sagen Sie mir doch bitte, weshalb Sie hier stehen!«, ruft sie dem Mann zu, der ihr jetzt den Rücken zukehrt.
    Blödes Gerede, denkt sie, wo doch glasklar ist, was hier passiert. Aber es geht ja darum, den Kontakt herzustellen und den Mann so weit zu kriegen, dass er mit ihr spricht.
    »Ich komme ein bisschen näher, dann redet es sich besser. Nicht zu nahe, versprochen.«
    Keine Reaktion.
    Lois macht ein paar Schritte nach vorn, zum Rand des Dachs hin. Beim Gedanken an die über dreißig Meter bis zum harten Asphalt wird ihr mulmig. Das Flachdach hat kein Mäuerchen oder Geländer, das vor einem Fall schützen könnte.
    Etwa drei Meter von dem Mann entfernt bleibt sie stehen, damit er sich nicht bedrängt fühlt.
    Fred hat sich nicht mehr vom Fleck gerührt, stellt sie aus dem Augenwinkel fest, er beobachtet das Ganze aber weiter ganz genau.
    »Was ist denn? Wollen Sie es mir sagen?«, fragt sie wieder.
    Den Blick starr in die Tiefe gerichtet, scheint der verzweifelte Mann gar nicht registriert zu haben, dass sie näher gekommen ist. Nun aber sieht er sich um und erschrickt. Er macht eine abwehrende Geste, hält sie mit gestrecktem Arm auf Abstand.
    »Wegbleiben, hab ich gesagt!«
    »Ist ja schon gut. Wollen Sie mir nicht von Ihrem Problem erzählen? Bitte.«
    »Das hat doch keinen Sinn. Mein Entschluss steht fest. So ist es für alle am besten.«
    »Vielleicht«, sagt Lois. »Aber vielleicht auch nicht. Bestimmt gibt es Alternativen, eine Lösung, an die Sie noch gar nicht gedacht haben. Was für ein Problem haben Sie?«
    »Das geht Sie einen Scheißdreck an!« Er wendet sich ab und schaut wieder nach unten.
    Lois macht einen weiteren Schritt, bleibt aber sofort stehen, als er sie mit einem wütenden Seitenblick bedenkt.
    Wann kommt endlich der Verhandler? Für solche Einsätze ist sie nicht ausgebildet und hat auch null Erfahrung damit. Aber wenn der Mann mitsamt dem Kind tatsächlich springt, wird sie sich ihr ganzes Leben lang vorwerfen, es nicht verhindert zu haben.
    »Ist der Junge Ihr Sohn?«, fragt sie.
    Es funktioniert: Der Mann löst den Blick vom Abgrund und betrachtet das Kind neben sich. Dann nickt er.
    »Wie heißt er?«
    »Sem.«
    Ja, sehr gut!, denkt Lois, sieh ihn dir an, wie er zittert und schwankt, mach dir klar, was du dem Kleinen antust!
    »Hübscher Name. Mein Neffe heißt auch so.«
    Lois hat keinen Neffen, aber das kann der Mann ja nicht wissen. Sie merkt, dass ihre Stimme viel zu munter klingt, so als würde sie mit einem Nachbarn über den Gartenzaun hin weg plaudern. Egal, sie hat ihn zum Reden gebracht, und nur darauf kommt es an. Wenn sie jetzt die richtigen Worte findet, stehen die Chancen gut. Nur: Welches sind die richtigen Worte?
    In ihrer Hilflosigkeit streckt sie die Hand nach dem Mann aus, als tröstliche Geste, nicht um ihn festzuhalten. Und so versteht er es auch. Er bleibt regungslos stehen und sieht sie schweigend an. Sein Gesichtsausdruck ist unendlich verzweifelt.
    Lois ist versucht, weiter auf ihn zuzugehen, aber das wäre jetzt falsch. Die Situation unter Kontrolle bekommen, hat de Vries von der Einsatzzentrale gesagt, und auf den Verhandler warten.
    Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick nach unten zu wagen. Die Straße ist nicht zu sehen. Nebelschleier legen sich wie feuchte Tücher um die oberen Etagen und täuschen über die gähnende Tiefe hinweg. Mit Entsetzen wird ihr klar, dass ein Sprung unter diesen Umständen viel leichter fällt.
    Vorsichtig schaut sie zu Fred hinüber, dem es gelungen ist, sich unbemerkt dem Kind zu nähern. Rasch wendet sie sich wieder dem Mann zu.
    Da ist etwas in seinen Augen, und mit einem Mal weiß sie, dass er es tun wird, jetzt gleich!
    »Nicht!« Ihr Ruf hallt über das Dach und verliert sich im Nebel.
    »Nicht springen!« Unwillkürlich macht sie ein paar Schritte auf ihn zu und ist nun so nah, dass sie ihn mit gestrecktem Arm berühren könnte.
    Sekundenlang schauen sie

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