Was sie nicht weiss
auch Brian am liebsten. Die Wohnung, in der sie fünf Jahre lang zusammenlebten, war nicht wesentlich anders eingerichtet als diese Maisonnette, in die sie nach der Trennung gezogen ist. Vielleicht hat sie den nüchternen Stil beibehalten, damit Brian, sollte er zu rückkommen, übergangslos wieder seinen Platz in ihrem Leben einnehmen könnte. Er fehlt ihr sehr, und sie weiß, dass das auch umgekehrt gilt, denn obwohl er wieder in Amerika lebt, haben sie weiterhin Kontakt. Zunächst über Skype und Mail, in letzter Zeit hauptsächlich über Facebook. Ein dürftiger Ersatz für das, was früher zwischen ihnen war.
Im Grunde war ihr von Anfang an klar gewesen, dass es einmal Probleme geben würde. Dass entweder sie oder er alles würde zurücklassen müssen, alles, was einem von ihnen von Kindesbeinen an vertraut war. Naiverweise war sie in ihrer Verliebtheit davon ausgegangen, dass Brian hierbleiben würde, dabei hatte er immer wieder betont, es sei nur für ein paar Jahre. Aber sie waren so unglaublich verliebt ineinander. Lois war der festen Überzeugung gewesen, dass nichts sie trennen könnte.
Irgendwann tauchten dann jedoch die ersten Schwierigkeiten auf. Verstimmungen und kleine Streitereien. Brian vermisste seine Eltern und die zahlreiche Verwandtschaft, während Lois sich damit herumschlug, dass sie – außer Tessa – gar keine Familie hat. Dass sie darunter leidet, hatte sie ihm bewusst verschwiegen, aber vermutlich hatte er gemerkt, wie sehr es sie belastet.
Vor einiger Zeit war Brian von seinem Arbeitgeber in die USA zurückbeordert worden. Lois war nicht bereit gewesen, alles aufzugeben und ihn zu begleiten, und er wiederum wollte nicht ihretwegen bleiben. Anscheinend war die Liebe doch nicht so stark, wie sie dachte.
Trotz der Trennung setzt sie sich jeden Abend nach der Arbeit als Erstes an ihren Computer und scannt auf Facebook die neuen Meldungen. Wenn Brian etwas geschrieben hat, kommentiert sie das hin und wieder oder klickt auf »gefällt mir«. Jedes gepostete Foto nimmt sie so akribisch unter die Lupe, als gälte es, ein Verbrechen aufzuklären, und immer hat sie Angst, einen Hinweis auf eine neue Liebe zu entdecken. Ob Brian ihre Fotos ebenso genau betrachtet? Befürchtet er auch, sie könnte wieder einen Freund haben, wenn sie beispielsweise einen netten Abend in der Kneipe erwähnt, oder weiß er wohl, dass sie lediglich mit ihren Kollegen zusammengesessen hat?
Lois zieht das Gummi aus ihrem Haar und schüttelt es, während sie die Meldungen des Tages überfliegt. Da – ein Text von Brian, in dem von einem nahenden Sturm die Rede ist. Sonst nichts.
Eine Weile betrachtet sie sein Profilfoto, wie schon so oft. Nach wie vor wirken das gebräunte Gesicht und der dunkle Haarschopf elektrisierend auf sie, mehr als ihr lieb ist.
Das schwarze Kleid ist ziemlich kurz und hat einen Spitzensaum. Weil der Ausschnitt für Lois’ Geschmack zu tief ist, hat sie ein Top daruntergezogen. Dazu trägt sie Schuhe mit so hohen Absätzen, dass man allenfalls kurze Strecken damit gehen kann und auch nicht lange stehen, will man sich die Gelenke nicht ruinieren.
Nach einem schnellen Imbiss und einer Viertelstunde Schminken vor dem Spiegel steigt sie in ihr Auto und schlägt den Weg ins nur wenige Kilometer entfernte Bergen ein.
Bergen ist seit jeher ein teures Pflaster, besonders an der Eeuwigelaan, wo die oberen Zehntausend wohnen. Die Straße ist mit alten Bäumen gesäumt, von denen sich etliche gefährlich neigen. Zu beiden Seiten stehen stattliche Villen, manche in traditioneller Bauweise mit Reetdach, andere hypermodern. Einige der parkähnlichen Grundstücke sind so weitläufig, dass die Häuser von der Straße aus kaum zu sehen sind, und so gut wie alle sind mit hohen Zäunen abgeschottet.
Das Tor zum Anwesen von Lois’ Schwager ist weit offen. Rechts und links davon stehen zwei bullige Männer, die die Gäste einweisen und auf einer Liste abhaken.
Lois lässt das Seitenfenster herab, nennt ihren Namen und wird durchgewunken.
Unter den Autoreifen knirscht der Kies. Einen Moment lang ist sie versucht, auf der sorgfältig geharkten Zufahrt Vollgas zu geben, damit die Steinchen aufspritzen.
Kaum zu glauben, dass ihre Schwester die prachtvolle Villa bewohnt, vor der Lois nun anhält. Der Kontrast zu ihrem eher bescheidenen Elternhaus ist so groß, dass sie sich noch immer nicht daran gewöhnen kann. Vielleicht wäre es anders, wenn ihr Schwager nicht adlig und Tessa die Alte geblieben wäre und
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