Was sie nicht weiss
Schwelle zum Wohnzimmer bleibt sie wie angewurzelt stehen und hält sich am Türrahmen fest.
Maaike sitzt kerzengerade auf dem Sofa, das Gesicht leichenblass und den Blick starr auf die Wand gegenüber gerichtet. In der Hand hält sie Lois’ Dienstwaffe, den Lauf an der Schläfe.
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Maaike ist am Ende. So viele Jahre hat sie sich nichts mehr gewünscht, als ein normales, halbwegs glückliches Leben zu führen, und eine Zeit lang sah es aus, als würde das gelingen. Aber man kann seine Vergangenheit nicht abschütteln, sosehr man sich auch bemüht. Immer wieder sind da Erinnerungsfetzen, die ihr klarmachen, dass früher nicht vorbei ist.
Für ein Leben ohne die anderen Persönlichkeiten müsse sie der Wahrheit ins Auge schauen, hat ihr Therapeut gesagt – eine Aussicht, die Maaike schreckte.
Die Wahrheit wird oft als ein Ideal dargestellt, denkt sie, als etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt, das läutert und befreit und große Opfer wert ist. Aber die Psychologen haben leicht reden, sie wollen einem aus ihrer überlegenen Position heraus klarmachen, dass es der Mühe wert ist, die Dämonen in den Tiefen des Unterbewusstseins aufzuspüren und zu bekämpfen.
Die einzige Wahrheit, die Maaike herausgefunden hat, ist die Tatsache, dass Verdrängung für sie der beste Weg ist, und phasenweise kam sie so ganz gut zurecht.
Doch damit ist es jetzt aus. Nach allem, was in den letzten Wochen passiert ist, fühlt sie sich leer und ausgepumpt, und sie sieht keinen Sinn mehr in einem Leben, in dem sie lediglich eine Nebenfigur ist.
Hart und kalt drückt der Pistolenlauf an ihre Schläfe. Sie braucht nur noch abzudrücken, dann ist es vorbei. Ihr Leben und auch der Schmerz, die Verzweiflung, das ständige Suchen nach sich selbst, das Ringen um ein winziges bisschen Glück.
Sie hört ein Geräusch und sieht Lois in der Tür stehen, schreckensstarr und blankes Entsetzen im Gesicht.
Die Polizistin ist Maaike sympathisch, sie vertraut ihr sogar. Aber sie ahnt nicht, wie mühsam Maaike sich durchs Leben schlägt, wie es sich anfühlt, überhaupt keine Zukunfts perspektive mehr zu haben. Wenn sie jetzt gleich schießt, dann auch, um Lois zu retten: Wenn Tamara tot ist, kann sie ihr nichts mehr anhaben.
Maaike lauscht in sich hinein und spürt Tamaras Drängen, aber diesmal behält sie die Oberhand. Verzweiflung ist eine starke Waffe.
»Maaike …«
Lois’ sanfte Stimme klingt wie aus weiter Ferne.
»Legen Sie die Pistole weg und lassen Sie uns reden. Ich komme jetzt zu Ihnen.«
Maaike wird nervös. Lois solle bleiben, wo sie ist, will sie sagen, aber die Worte bleiben ihr in der Kehle stecken.
Sie sieht, wie Lois sich auf einen Sessel neben ihr setzt, und wirft ihr einen warnenden Blick zu.
Trotzdem fängt Lois an zu reden.
Ihr Mund geht auf und zu, ohne dass Maaike etwas hört. Die Worte umwirbeln sie wie Schneeflocken. Einen Moment lang denkt sie daran, dass heute der erste Tag des neuen Jahres ist. Der ideale Zeitpunkt, einen guten Vorsatz umzusetzen.
Sie wird schießen. Lois sieht es an Maaikes Gesichtsausdruck, der Blick ist starr geworden. Dass sie ihr Unterstützung zugesichert und wortreich auf Therapien hingewiesen hat, hat nichts bewirkt. Sie wird sich umbringen.
Nicht schon wieder, denkt Lois verzweifelt.
In dem Sekundenbruchteil, bevor Maaike die Augen schließt, rafft Lois ihre letzte Kraft zusammen und wirft sich nach vorn. Just in dem Moment drückt Maaike ab.
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»Wir waren bereits im Anmarsch«, sagt Fred. »Der Nachbar von gegenüber hat angerufen, weil es ihm seltsam vorkam, dass dein Auto auch am Neujahrsmorgen noch in der Straße stand. Eine halbe Stunde später hätten wir das Haus gestürmt.«
Er sitzt neben Lois’ Krankenhausbett. Die Wunde an ihrer Schulter wurde mit sieben Stichen genäht, und gegen die Kopfschmerzen aufgrund der Gehirnerschütterung hat sie ein Medikament bekommen.
»Was ist mit Helen?«, fragt sie.
»Die haben wir erreicht und vorgewarnt. Sie wäre nicht nach Hause gegangen, sondern zu einer Freundin, sodass Maaike vergeblich gewartet hätte.«
»Tamara«, korrigiert Lois. » Sie ist die wirkliche Täterin. Zum Glück wusste sie nicht, dass Helen gewarnt war, sonst wäre sie komplett ausgerastet.«
»Und hätte ihre Wut an dir ausgelassen.« Fred schüttelt den Kopf. »Was für ein Wahnsinn!«
Lois’ beherzter Sprung hatte bewirkt, dass die Kugel Maaikes Kopf knapp verfehlte und das Erkerfenster durchschlug.
Wenig später traf die Polizeieinheit ein.
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