Was sie nicht weiss
»Ich hab was richtig Lustiges vor. Guido wird fünfzig und feiert heute groß. Abendgarderobe erwünscht!«
»Und das heißt?«
»Dass ich mir ein neues Kleid kaufen musste. Und Stilettos.«
»Hast du so was denn nicht?«
»Kleid und Schuhe? Doch, vom letzten größeren Fest, aber bei den Schuhen ist das Leder an den Spitzen eingerissen, und auf dem Kleid ist ein Fettfleck, der nicht mehr rausgeht. Deshalb musste ich was Neues kaufen. Vielleicht kann ich die Sachen ja zu Weihnachten wieder tragen, mal sehen …«
»Musst du denn jedes Mal in einer anderen Kreation bei Schwester und Schwager aufkreuzen?«, fragt Fred.
»Eigentlich schon. Aber wie wär’s, wenn ich sage, dass ich für die Weihnachtstage bei dir und Nanda eingeladen bin?«
»Wenn du den Radau unserer Enkelkinder erträgst, bist du herzlich willkommen. Obwohl ich finde, das kannst du deiner Schwester nicht antun.«
»Stimmt. An Weihnachten werde ich wohl oder übel wieder antanzen müssen. Nun aber erst mal die blöde Geburtstagsfeier, eins nach dem anderen.«
3
Draußen ist es nach wie vor neblig. Schon die ganze Woche war trübes Wetter, und jetzt im Winter wird es auch sehr früh dunkel. Wäre Sommer, könnte Lois noch eine Stunde draußen joggen. Das geht zwar auch im Dezember, aber der nasskalte Abend lädt nicht gerade dazu ein. Außerdem hat sie wegen der Geburtstagsfeier ohnehin keine Zeit.
Mit dem Jackenärmel wischt sie den Fahrradsattel trocken und nimmt einen Schal aus der Satteltasche. Vom Waagplein bis zu ihrer Wohnung ist es zwar nicht weit, aber sie will keine Erkältung riskieren. Eingemummelt in den Wollschal, fährt sie los.
Lois wohnt an der Baangracht, unweit der früheren Stadt mauer. Heute befindet sich dort eine schmale Grünanlage mit Spazierwegen entlang des Stadtgrabens.
»Dass die Mauer abgebrochen wurde, ist ein Jammer«, sagte ihr Vater oft, der als Geschichtslehrer gern über frühere Zeiten erzählte. »Sie hat unsere Vorfahren gegen die Spanier geschützt. Schon aus Achtung vor der Vergangenheit hätte man sie stehen lassen müssen.«
Lois erinnert sich noch gut an einen Wintertag, als sie fünf, sechs Jahre alt war und mit ihrem Vater am zugefrorenen Stadtgraben stand. Er lief gern Schlittschuh und zog sie dann auf einem Schlitten hinter sich her.
»Gleich da drüben lag der Feind und wollte Alkmaar einnehmen«, sagte er und deutete ans andere Ufer. »Es waren spanische Truppen unter Don Fadrique de Toledo, Herzog Albas Sohn. Mit ein bisschen Fantasie kannst du es vor dir sehen.«
Mit den fremdländischen Namen konnte Lois wenig anfangen, und ihre Vorstellungskraft, was die Geschichte angeht, war noch nicht ausgebildet. Leicht verwirrt blickte sie vom Schlitten aus auf das verschneite Ufer.
»Bei der Bank waren sie also?«, fragte sie.
Ihr Vater schwieg kurz, dann lachte er und sagte: »Ja, genau da.«
Immer wenn Lois von ihrem Fenster zu der Stelle hinüberschaut, wo inzwischen längst keine Bank mehr steht, muss sie an ihren Vater denken.
Die drei Zimmer ihrer nicht besonders großen Wohnung sind auf zwei Stockwerke verteilt. Im Erdgeschoss befindet sich der Wohn- und Essbereich mit offener Küche, oben sind das Bad und zwei weitere Zimmer. Das eine ist ihr Schlafzimmer. Das andere, kleinere hat sie zum Fitnessraum umfunktioniert und mit Laufband und Hometrainer ausgestattet.
Mehr Platz brauchte sie nicht. Ihr war vor allem wichtig, nicht zu weit weg vom Büro zu wohnen. Und das ist ihr gelungen. Obwohl in der Innenstadt zu wohnen nie billig ist, reichten ihre Ersparnisse gerade noch, um die Wohnung nach ihrem Geschmack zu renovieren und zu möblieren.
Die Einrichtung ist klar und schnörkellos. Auf dem schwarzen Holzfußboden des Wohnzimmers liegt ein hellgrauer Teppich, die Wände sind weiß getüncht, die Möbel ebenfalls weiß, bis auf die schwarze Arbeitsplatte im Küchen bereich. Dort war auch noch Platz für einen schmalen Bartisch, an dem sie morgens, meist in Eile, ihren Kaffee trinkt. Den Übergang zum Wohnraum bilden ein weißer Esstisch und vier Stühle mit schwarz-weiß gestreiften Bezügen.
Eine Zeit lang hat ihre Schwester Tessa versucht, der Wohnung mit Dekogegenständen etwas mehr Farbe zu verleihen. Die gut gemeinten Mitbringsel, meist in diversen Rosatönen, hat Lois stets umgehend an Bekannte weiterverschenkt, und inzwischen hat Tessa wohl aufgegeben, da sie bei Besuchen entweder gar nichts oder etwas in Lois’ bevorzugten Farbtönen mitbringt.
Schwarz und weiß mochte
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