Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
zehn unterschiedliche, aus soziodemografischen Merkmalen und Einstellungsmustern geclusterte Wolken herum, genannt Sinus-Milieus, von denen die „Bürgerliche Mitte“ gerade noch 14 Prozent ausmacht. Die Milieublasen schrumpfen, und es ist abzusehen, dass der gesellschaftliche Schaum in Zukunft noch feinporiger werden wird. Der Journalist und Soziologe Jürgen Kaube charakterisiert in seinem Essayband Otto Normalabweicher diese Entwicklung weg von tradierten Zuschreibungen wie „Arbeiter“ oder „Katholik“ hin zu individualisierten Lebensstilen als „Aufstieg der Minderheiten“ und konstatiert, „es ist normal geworden, dem Durchschnitt nicht zu entsprechen“.
In solch einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft müssen Trends nicht unbedingt ein Millionenpublikum erreichen, um wirksam zu werden und gesellschaftlichen Wandel zu initiieren. Marc J. Penn, Umfrageguru und CEO des PR-Giganten Burson-Marsteller, identifiziert sie als Mikrotrends: „kleine Strömungen, die unterhalb des Radars wirken, vielleicht nur ein Prozent der Bevölkerung betreffen, die aber dennoch unsere Gesellschaft kraftvoll formen“. Bekannt wurde Penn dadurch, dass er als Clinton-Berater 1996 die „Soccer Moms“ erfand – berufstätige Mütter, die sich dennoch für ihre Kinder aufreiben – und sie als kritische Wechselwählerschaft identifizierte. In seinem Buch Microtrends stellt er 57 weitere im Verborgenen wachsende Fraktionen der US-Gesellschaft vor. Dazu zählen Schwerhörige, deren Zahl im Gegensatz zu Kurz- oder Weitsichtigen deutlich wächst, ebenso wie Transsexuelle – nach neuesten Schätzungen eine(r) von 4.500 Amerikaner(inne)n –, die sich gerade nach dem Vorbild der Homosexuellenbewegung als pressure group formieren.
Aber wann kippen die Dinge? Wann wird aus einem Phänomen, von dem sich anfangs nur eine verschwindende Minderheit angesprochen fühlte und das schon längere Zeit unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle dümpelt, ein veritabler Trend? Wo liegen die tipping points ? Gesetzmäßigkeiten und eindeutige Schwellen lassen sich in den seltensten Fällen aufstellen. Bei Heuschrecken wurdeneindeutige Schwellenwerte entdeckt, bei denen sich das Verhalten der Tiere ändert. Die Stellgröße ist hier die räumliche Dichte der Tiere. Ein Forscherteam um Jerome Buhl von der Oxford University setzte die Tiere in eine ringförmige Arena und beobachtete ihr Verhalten mit Kameras. Buhl fand heraus, dass bei einer geringen bis mittleren Dichte an Heuschrecken pro Quadratmeter die Insekten frei umherkrabbeln, ohne sich untereinander abzustimmen. Stieg die Zahl auf mehr als 50 Exemplare pro Quadratmeter, wechselten die Heuschrecken in einen Marschmodus und bildeten kleine koordinierte Gruppen, die jedoch häufig die Richtung wechselten. Bei mehr als 75 Heuschrecken je Quadratmeter fand erneut ein Phasenwechsel des Verhaltens statt, es wurde ruhiger und die Marschbewegungen synchronisierten sich zu einem großen Schwarm.
Doch menschliche Gesellschaften sind komplexer als Heuschreckenschwärme, sodass sich hier meist keine eindeutigen tipping points ausmachen lassen. Matthias Horx, der bekannteste unter Deutschlands Trendforschern, bietet in seinem jüngsten Buch Das Megatrend-Prinzip immerhin eine Faustregel an, die für alle großen, langfristigen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse zu gelten scheint – auch hier ist es wieder eine 1-Prozent-Regel: „Die Schlüsselvariable bei Megatrends steigt um 1 Prozent pro 1 Jahr“ – sei es der Anteil erneuerbarer Energien, die Anzahl von Frauen in Management-Positionen oder die Zahl höherer Bildungsabschlüsse. Auch für den Megatrend Urbanisierung gilt das: Lebten 2008 50 Prozent aller Menschen in Städten, werden es 2030 rund 75 Prozent sein.
Zukunftsforscher Karlheinz Steinmüller ist da etwas skeptischer: „Wir sehen natürlich, dass es Regelmäßigkeiten gibt, dass es Schwingungen in der Gesellschaft gibt, nur meistens haben wir keine Variable, die wir beobachten können, oft haben wir keine guten Indikatoren. Insofern können wir fast nie damit arbeiten.“ Dennoch erkennt er die Bedeutung solcher Schwellenwerte an: „Es gibt Umschlagpunkte im Verhalten vernetzter Systeme, egal, ob das eine Gesellschaft oder eine Population von Bakterien ist. Die sind allerdings nicht fixiert. Die öffentliche Meinung kippt nicht bei drei Prozent, allerdings können Epidemien mit einer längeren Inkubationszeit bei einer Infektionsrate von drei Prozent ausgelöst
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