Was vom Tode übrig bleibt
es ist in ländlichen Gegenden auch heute nicht einfach, überall blitzschnell einen Notarzt hinzubekommen, gerade am Freitagmittag, wenn das Wochenende anfängt. Aber in diesem Moment war mir klar, wie ich auch ohne Medizinstudium ein bisschen John Wayne sein konnte. Ich wollte Rettungsassistent werden. Rettungsassistenten sind die Jungs, die den Notarzt zur richtigen Zeit ans Ziel bringen, die ihn fahren und ihm auch bei der Arbeit assistieren. Und das konnte ich werden, das ging ohne Abitur.
Dieses Ziel legte die Etappen meiner Ausbildung fest. Die Rettungsassistenten wurden und werden in München von der Berufsfeuerwehr bestückt. Also musste ich Berufsfeuerwehrmann werden. Aber das kann nicht jeder: Wer zur Berufsfeuerwehr will, muss vorher einen Handwerksberuf lernen, denn die Feuerwehr braucht Leute, die mit ihren Händen was anfangen können, Leute, die wissen, wie etwas funktioniert, wie man es repariert oder zerlegt oder umfunktioniert. Also lernte ich zunächst den Beruf des Kraftfahrzeugmechanikers. Und damit bewarb ich mich 1987 bei der Berufsfeuerwehr. Ich wurde auch prompt genommen. Und nach drei Jahren sattelte ich die Ausbildung zum Rettungsassistenten drauf. Wohin es mich später verschlagen sollte, konnte man da schon ein wenig ahnen: Denn der schönste Tag meiner Ausbildung war für mich der Besuch in der Rechtsmedizin.
Letztlich dient dieser Teil der Ausbildung dazu, einmal einen Menschen von innen zu sehen, sonst ist das ja alles sehr graue Theorie. Und in der Rechtsmedizin geht es schon etwas rustikal zu, das ist keine Schönheitsklinik, die Mediziner dort sind relativ sachlich, da wird der Mensch mitunter komplett ausgehöhlt, dann wird alles wieder reingesteckt, mit etwas Zeitungspapier ausgestopft und mit einer Paketschnur zugenäht. Das schaut manchmal recht bizarr aus.
Uns angehenden Rettungsassistenten haben sie drei Fälle gezeigt. Der erste waren zwei Menschen, die bei einem Verkehrsunfall verbrannt sind. Ein Müll-Laster war an einem Stauende auf einen Pkw aufgefahren, und der Pkw war in Brand geraten. Hier wollten Polizei und Staatsanwalt herausfinden, ob die Opfer nach dem Aufprall noch gelebt hatten – also ob der Aufprall Todesursache gewesen war oder die Flammen. Beantworten kann man diese Frage nur nach einem Blick in die Lunge, denn wer tot ist, atmet nichts mehr ein. War die Lunge rußfrei, mussten die beiden vor dem Brand gestorben sein, war sie verrußt, hatten sie den Brand noch zumindest atmend mitbekommen, wenn auch vielleicht nicht mehr bei Bewusstsein. Wir standen direkt daneben, haben auch ein bisschen mitgeholfen, wie sie die Körper öffneten, den Brustkorb, wie sie in die Lunge guckten und dann zu dem Schluss kamen: Das Feuer war’s.
Schon zu diesem Zeitpunkt ging es einigen aus dem Kurs nicht besonders gut, aber ich war total fasziniert. Wie eine Lunge aussieht, wie das Gehirn aussieht, leibhaftig, das hätte ich ewig ansehen können. Als Nächstes kam ein ähnliches Problem wie bei den Brandopfern vom Unfall zuvor, aber ein Mordfall. Ein Mann war tot mit dem Kopf in einer Toilettenschüssel aufgefunden worden, und die Frage war hier: War er im Toilettenwasser ertrunken oder schon vorher tot? Anschließend wurde ein alter Mann hereingeschoben, der stark aufgedunsen war, eine lange liegende Leiche, eine, die aus einer der Wohnungen hätte stammen können, die ich heute reinige.
Ich konnte mich gar nicht sattsehen. Jedes Mal ein neues Schicksal, eine neue Geschichte, und zusätzlich konnte ich etwas in aller Ruhe betrachten, was ich unter normalen Umständen nie oder nur relativ kurz sehen würde, weil ich mich als Rettungsassistent noch um so viel anderes zu kümmern habe. Zudem faszinierte mich dieser professionelle Umgang mit etwas, das man sonst nur mit viel Distanz behandelt. Die Rechtsmediziner nahmen zum Beispiel beim Kopf das Skalpell, machten einen sauberen Schnitt über die Stirn von Ohr zu Ohr, dann klappten sie die Kopfschwarte hinten und vorne hinunter wie bei einer Banane. Anschließend sägten sie mit einem ganz feinen Allesschneider, einer Art winziger Kreissäge, einmal rundherum um den Schädel, aber nicht ganz durch den Knochen, damit sie das Gehirn darunter nicht beschädigten– das wollten sie ja untersuchen. Darum nahmen sie, nachdem sie diese Sollbruchstelle rund um den Kopf gefräst hatten, einen Hammer und einen Meißel, setzten einmal an der richtigen Stelle an und– plopp!– hatten sie die Schädelkalotte in der Hand, für
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